Der Wille 
zum Angriff (SZ 05.03.14)

1. Weltkrieg
Hätte England sich 1914 heraushalten sollen? 
Wie sähe die Welt dann aus?

Von John C.G. Röhl

Als deutsche Truppen am 3. August 1914 in das neutrale Belgien einfielen, um gemäß dem Schlieffen-Plan Frankreich zu erobern, ehe man gegen Russland loszog, stand die Regierung Großbritanniens vor der Frage, ob sie abseits bleiben oder in den Kontinentalkrieg eingreifen sollte. Die Entscheidung Londons, dem Entente-Partner Frankreich mit einem Expeditionskorps von 100 000 Mann beizustehen, sollte schließlich das Leben von einer Million jungen Männern aus Großbritannien und dem Empire kosten – etwa dreimal so viel wie im ganzen Zweiten Weltkrieg.

  Einhundert Jahre nach Beginn des Großen Krieges ist die Kontroverse über Sinn und Unsinn des Kriegseintritts in der britischen Öffentlichkeit von Neuem aufgeflackert. Für die Gedenkfeier der Katastrophe hat die Regierung Cameron 50 Millionen Pfund bereitgestellt, ein Expertengremium einberufen und angeregt, „Stolpersteine“ zu Ehren der Gefallenen in die Bürgersteige ihrer Heimatstädte und -dörfer einzusetzen. Doch die Diskussion darüber, wie das Zentenarium des Großen Krieges begangen werden sollte, verläuft auf der Insel noch etwas orientierungslos – nicht zuletzt deshalb, weil die Fachhistoriker zerstritten sind. Die gegenwärtige britische Regierung sieht sich genötigt, aufklärend auf den Streit einzuwirken. Bildungsminister Michael Gove verursachte kürzlich Aufregung, als er linksgerichteten Intellektuellen vorwarf, ein allzu negatives Bild des Krieges verbreitet zu haben, und einigen Schullehrern unterstellte, satirische Fernsehsendungen wie „Blackadder“ (mit Rowan Atkinson nicht als Mr. Bean, sondern in der Rolle eines närrischen hochnäsigen Frontoffiziers) oder das antikapitalistische Musical „Oh what a lovely war!“ der 1960er-Jahre für den Geschichtsunterricht zu verwenden. Die Regierung muss allerdings vorsichtig operieren, will sie vermeiden, alte Ressentiments gegen „die Deutschen“ wieder aufkommen zu lassen. Besser, man distanziert sich vom eigentlichen Kriegsgrund von damals und spricht, wie David Cameron es neulich getan hat, von der drohenden Vorherrschaft „Preußens“ in Europa, welche die „Generation von 1914“ abzuwehren hatte. Doch unter dem Eindruck mehrteiliger Fernsehdokumentationen wächst das Verständnis für den britischen Kriegseintritt als notwendiges Übel wieder.

  In Deutschland scheint sich die öffentliche Meinung in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Im Windschatten von Bestsellern wie Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ oder Herfried Münklers „Der Große Krieg“ sollen jetzt nur noch 19 Prozent der Deutschen die „Hauptverantwortung“ für den Krieg bei der Reichsregierung sehen. Das ist eine nicht unbedenkliche Entwicklung, denn seit den bahnbrechenden Arbeiten von Fritz Fischer und Imanuel Geiss, die mit unwiderlegbaren Dokumenten aus den Archiven das Ausmaß der Kriegsziele des kaiserlichen Deutschland offenlegten, herrscht in der internationalen Forschung Übereinstimmung über die führende Rolle, die die Berliner Regierung bei der Verursachung des Weltkriegs gespielt hat. Zum Glück wird niemand auf den Gedanken kommen, dass das heutige demokratische, ja fast pazifistische Deutschland, das in Frieden mit allen seinen Nachbarn lebt und eine verantwortungsbewusste Rolle in der internationalen Staatenordnung übernommen hat, mit wilhelminischen Alleingängen in der Weltpolitik liebäugelt. Etwas mulmig wird es einem trotzdem bei der Vorstellung, dass in Deutschland jetzt wohl der Eindruck entsteht, als wären die Forschungsergebnisse von Fischer, Geiss und zahlreichen anderen Historikern nichts weiter als Ausdruck eines „blame game“ (Clark) gewesen, mit der die Alliierten Deutschland durch eine unfaire Schuldzuweisung auch noch für den Ersten Weltkrieg niederzuhalten getrachtet hätten.

  Die These von der „Unschuld“ der Reichsregierung an der Auslösung des Weltkriegs im Juli 1914 kann nur vertreten werden, wenn man die Ergebnisse der Archivforschung der vergangenen fünfzig Jahre bagatellisiert oder ganz außer Acht lässt. Mit dem Ausbruch der Balkankriege im Herbst 1912 vermehrten sich unter den Entscheidungsträgern in Berlin und Wien die Befürworter eines Krieges nicht nur gegen Serbien, sondern auch gegen Frankreich und Russland. Aufgeschreckt durch die Aussichtslosigkeit eines Seekrieges gegen die Supermacht England, setzte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg nach der Zweiten Marokkokrise gegen Admiral von Tirpitz eine Umorientierung der deutschen Kriegsplanung durch: Statt wie bisher einen Krieg gegen Frankreich und erforderlichenfalls auch gegen Großbritannien in der Annahme der russischen Neutralität ins Auge zu fassen, bereitete man sich nun auf einen Krieg gegen Frankreich und Russland in der Hoffnung auf die englische Neutralität vor. „Um gegen Moskau marschieren zu können, muss erst Paris genommen werden“, erklärte der Kaiser im November 1912.

  Bereits zu dieser Zeit entschied sich die deutsche Regierungselite für den Krieg gegen Frankreich und Russland, wenn sich ein geplanter Angriff Österreichs auf Serbien als für Russland unannehmbar erweisen sollte. Von dieser Entscheidung trat man nur deshalb wieder zurück – das war die eigentliche Bedeutung des berühmten „Kriegsrats“ vom 8. Dezember 1912 – weil Fürst Lichnowsky, der deutsche Botschafter, aus London meldete, England werde doch nicht neutral bleiben; Großbritannien könne es niemals zulassen, Frankreich zerschmettert zu sehen, um sich dann einem von Deutschland beherrschten Kontinent gegenüberzufinden.

  In den folgenden 18 Monaten fanden zwischen Berlin und Wien mehrfach Gespräche darüber statt, wie und wann man einen Krieg – ausdrücklich immer auch einen solchen gegen Frankreich und Russland – beginnen könne. Nach einem Treffen zwischen dem Chef des deutschen Generalstabs von Moltke und seinem österreichischen Amtskollegen Conrad von Hötzendorf in Karlsbad im Mai 1914 berichtete Generalquartiermeister Graf Waldersee, die beiden Heerführer seien sich darüber einig gewesen, „daß zur Zeit noch die Dinge für uns günstig lägen, man solle also nicht zögern, im gegebenen Falle energisch aufzutreten und, wenn nötig, den Krieg zu beginnen.“ Allerdings würden die Staatsmänner und nicht zuletzt beide Monarchen für „energische Maßnahmen“ noch gewonnen werden müssen, fügte Waldersee hinzu. Ende Mai 1914 drängte Moltke den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, „unsere Politik auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen“. 1916 brüstete sich Moltke damit, den Weltkrieg selber „vorbereitet und eingeleitet“ zu haben. Derartige Belege für den Kriegswillen des deutschen Militärs noch vor Sarajewo ließen sich beliebig fortsetzen. Jagow seinerseits wurde von Schuldgefühlen verfolgt. Einer Freundin gestand er, nicht mehr schlafen zu können, da Deutschland „den Krieg gewollt“ habe.

  Der vom Kaiser am 3./4. Juli 1914 hingekritzelte Randvermerk, mit den Serben müsse „jetzt oder nie (. . . ) aufgeräumt“ werden, wirkte als Signal für die Umsetzung des Schlieffen-Plans. Am folgenden Tag stellte Wilhelm II. den Österreichern einen Blankoscheck für den Fall aus, dass ihr Angriff auf Serbien in einen Kontinentalkrieg münden würde, was in der Wilhelmstraße als zu 90 Prozent wahrscheinlich eingeschätzt wurde. Im Neuen Palais empfing der Kaiser den Kanzler sowie die Spitzen von Heer und Marine, fragte sie nacheinander, ob tatsächlich alles kriegsbereit sei, und ordnete die geheime Mobilmachung der Flotte an.

  In Berlin waren nicht viel mehr als zwanzig Männer an dem Kriegskomplott beteiligt. Sie waren sich einig in der Überzeugung, die Stellung des Reiches „als europäische Kontinentalmacht zweiter Ordnung“ sei nicht mehr hinnehmbar. Wie Tirpitz es im Oktober 1913 formulierte: „Schließlich scheine es einer großen Nation würdiger, um das höchste Ziel (der Weltstellung) zu kämpfen und vielleicht ehrenvoll unterzugehen, als ruhmlos auf die Zukunft zu verzichten.“ Die Bemühungen des Fürsten Lichnowsky, das Desaster abzuwenden, wurden von seinen Vorgesetzten torpediert. Später nannte er sie „diese Hunde“ und bezichtigte mit „brennendem Haß“ vor allem Bethmann Hollweg der vorsätzlichen Kriegsauslösung. Der Kerngedanke des Komplotts war, wie der Chef des kaiserlichen Marinekabinetts von Müller in seinem Tagebuch festhielt, „Rußland sich ins Unrecht setzen lassen, dann aber Krieg nicht scheuen“. Bethmanns Kalkül lautete: Wenn Berlin den Anschein erwecken könnte, als wäre Russland der Angreifer, würden vier wichtige Ziele erreicht werden können. Erstens: Österreich wäre von Anfang an in der Pflicht, an der Seite des Deutschen Reiches zu kämpfen; zweitens: das deutsche Volk wäre bereit, zu den Waffen zu greifen in einem vermeintlichen Verteidigungskrieg gegen das zaristische Russland; drittens: Italien und Rumänien wären vertraglich verpflichtet, in den Krieg einzutreten; und – das allerwichtigste Ziel – Großbritannien würde seine beiden Entente-Partner fallenlassen und neutral bleiben.

Um die Großmächte in dem Glauben einzulullen, dass das Attentat von Sarajewo keine weiteren Auswirkungen zeitigen würde, fuhren die leitenden deutschen Staatsmänner und hohen Offiziere in den Urlaub. Später beteuerten sie, keine vorherige Kenntnis vom österreichischen Ultimatum an Serbien gehabt zu haben – nachweisbar eine glatte Lüge. Der Kaiser wurde auf seine Nordlandreise geschickt, um Normalität vorzutäuschen, doch diesmal ging die Hohenzollern bezeichnenderweise bereits im Sognefjord unweit von Bergen vor Anker. Von dort aus könne der Oberste Kriegsherr in zwei Tagen in Kiel sein, hieß es. Als der kritische Augenblick näherrückte, regte Jagow an, die Hohenzollern könne doch in der Ostsee herumkreisen – so sei der Kaiser schneller in der Heimat.

Das österreichische Ultimatum an Serbien war bewusst unannehmbar gestaltet worden. Russland, Frankreich, Großbritannien und Italien reagierten allesamt ungläubig und wütend auf die Behauptung Berlins, keine Ahnung von den Absichten Wiens gehabt zu haben. Der Dreibundpartner Italien erklärte sich keineswegs verpflichtet, mit in den Kampf zu ziehen, da der drohende Konflikt kein Verteidigungskrieg sei.

Am 25. Juli 1914 kehrten Bethmann, Moltke, Kriegsminister von Falkenhayn und Tirpitz wie gerufen auf ihre Posten nach Berlin zurück. Auch Kaiser Wilhelm ließ an diesem Tag die Segel setzen. Aus der Sicht Bethmann Hollwegs war seine Heimkehr jedoch verfrüht, da sie in London als Warnsignal gewertet werden könnte. Seine Befürchtung erwies sich als berechtigt – auf Anordnung Winston Churchills segelte die Royal Navy kriegsbereit vom Ärmelkanal aus nach Schottland.

Nach Potsdam zurückgekehrt, geriet der Kaiser am 28. Juli 1914 vorübergehend in Panik. Wieder war es Lichnowsky, der aus London warnte, dass die Briten nicht neutral bleiben würden, falls Deutschland in Frankreich einmarschiere. Aber diese Mahnung wurde aufgrund einer fatalen Mitteilung des Prinzen Heinrich von Preußen in den Wind geschlagen. Wie schon im Dezember 1912 hatte Wilhelm II. seinen Bruder nach London entsandt, um herauszuhören, wie sich England im Falle eines Krieges auf dem Kontinent verhalten würde. Nun teilte Heinrich seinem Bruder mit, König George V. habe ihm am 26. Juli wörtlich versichert: „We shall try & keep out of it, we shall probably remain neutral“’ Plötzlich war der Kaiser wieder auf Linie und erklärte: „Ich habe das Wort eines Königs, das genügt mir.“

Die Entscheidungsträger in Berlin warteten nun wie auf Kohlen darauf, dass sich Russland mit seiner Mobilisierung ins Unrecht setzen würde. Sie nahmen sich vor, am 31. Juli um zwölf Uhr mittags selber den unwiderruflichen Schritt zum Krieg zu vollziehen und brachen in Jubel aus, als 20 Minuten vor Ablauf der selbstgesetzten Frist die Nachricht von der russischen Generalmobilmachung eintraf. „Überall strahlende Gesichter, – Händeschütteln auf den Gängen; man gratuliert sich, daß man über den Graben ist“, notierte der bayerische Militärbevollmächtigte nach einem Besuch im preußischen Kriegsministerium.

Bis zu diesem Punkt schien die deutsche Strategie aufzugehen. „Stimmung glänzend“, stellte Admiral von Müller begeistert fest. „Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen“’ Bei der Unterzeichnung der Mobilmachungsorder am 1. August 1914 hatten der Kaiser und Falkenhayn Tränen der Rührung in den Augen. Für einen Moment schienen die Dinge noch besser zu werden, als eine Depesche Lichnowskys die Neutralität Englands doch in Aussicht stellte. „Welch fabelhafter Umschwung“, schrieb Müller in sein Tagebuch. In „sehr gehobener Stimmung“ ließ der Kaiser Sekt kredenzen. Doch bald stellte sich Lichnowskys Nachricht als Missverständnis heraus; der Krieg gegen alle drei Mächte der Entente – also der Weltkrieg – war da.

Als der amerikanische Botschafter Walter Page am Nachmittag des 4. August 1914 in London zur deutschen Botschaft fuhr, um die Geschäfte zu übernehmen, fand er den Fürsten Lichnowsky wie einen Gebrochenen im Schlafanzug herumirrend vor. Die Fürstin Mechthild Lichnowsky wischte das Porträt Kaiser Wilhelms vom Schreibtisch ihres Mannes und rief aus: „Das ist das Schwein, das dies verbrochen hat!“ Und als der US-Botschafter kurz darauf mit George V. sprach, fragte ihn der König verzweifelt: „My God, Mr. Page, what else could we do?“

Was hätte Großbritannien anders tun können? Wie hätte die Welt ausgesehen, hätte sich England 1914 aus dem Konflikt auf dem Kontinent herausgehalten? In seinem berüchtigten Septemberprogramm nannte Bethmann Hollweg als allgemeines Ziel des Krieges die „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit“. Zu diesem Zweck müsse „Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu entstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden“. Frankreich dürfe keine Armee mehr aufstellen und müsse seine Erzgebiete, einen Küstenstrich „von Dünkirchen nach Boulogne“ sowie seine Kolonien an Deutschland abtreten. In der neuen Staatenordnung werde Belgien zu einem „Vasallenstaat“ des Deutschen Reiches „herabsinken“, der gesamte Kontinent in einem Wirtschaftsverband unter der Vorherrschaft Deutschlands zusammengefasst werden. Als Pendant käme ein zusammenhängendes mittelafrikanisches Kolonialreich hinzu. In seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ konnte Fritz Fischer belegen, dass diese Ziele im Verlauf des Krieges grundsätzlich gleichgeblieben sind, ja, im Osten sind sie teilweise durchgesetzt worden, als Trotzki im März 1918 den Diktatfrieden von Brest-Litowsk unterzeichnete.

Wilhelm II. teilte diese Ziele vollauf und ging in seinen Forderungen sogar noch weiter. In seiner Denkschrift vom 9. September 1914 stellte Bethmann fest, er werde seit geraumer Zeit vom Kaiser gedrängt, eine Art ethnische Säuberung an der flandrischen Küste Belgiens und Frankreichs vorzunehmen, um dort verdiente deutsche Soldaten als Bauern anzusiedeln. Flanderns Küste mit den Häfen Antwerpen, Zeebrügge, Ostende, Dünkirchen, Calais und Boulogne bezeichnete der Kaiser als „das Kampfziel meiner Marine“.

War dies also, wie Niall Ferguson neuerdings wieder behauptet hat, für England „der falsche Krieg“? Hätte es zusehen sollen, wie Frankreich von der deutschen Armee niedergeschmettert und Belgien zum Vasallenstaat herabgedrängt wurde, deutsche Veteranen entlang des Ärmelkanals angesiedelt wurden und deutsche Kriegsschiffe und U-Boote in Brest und Bordeaux, später eventuell in Gibraltar und auf den Azoren, Stützpunkte errichteten, ein deutsches Kolonialreich quer durch Afrika erobert und Russland zum Agrarland degradiert wurde, mit deutschen Truppen an den Toren Ägyptens und Indiens? Was wäre dann der nächste Schritt gewesen? Wo sollte das alles enden? Und abgesehen von der Frage der eigenen Sicherheit und der moralischen Verpflichtung den Ententepartnern gegenüber, welche Folgen für das internationale Recht hätte bei einer derartigen gewaltsamen Umwälzung der europäischen Staatenordnung ein britisches Hinwegsehen gezeitigt?

Im September 1917 setzte Kaiser Wilhelm II. dem Nachfolger Bethmann Hollwegs als Reichskanzler auseinander: „England ist unser erbitterter, geschworener Haß- und Neiderfüllter Concurrent. (. . . ) England hat den (ERSTEN) Punischen Krieg – so Gott will – nicht gewonnen also verloren; wir haben es aber nicht bezwungen und scheinen es auch nicht zu können im Augenblick. Also wird der (ZWEITE) Punische Krieg – hoffentlich unter besseren Alliiertenbedingungen und Chancen – unbedingt sofort vorbereitet werden müssen. Denn er kommt. Ehe einer von uns beiden nicht allein oben ist, giebt es keinen Frieden in der Welt! Condominium gestattet Großbritannien nicht; also muß es hinausgeschmissen werden. Es ist dasselbe wie ’66 mit Österreich; was die Vorbedingung für ’70 war! (. . . ) So ist es mit England in der Welt auch. Um das ordentlich niederringen zu können, müssen jetzt im Frieden unbedingt milit. und marinepolitisch die Vorbedingungen geschaffen werden.“

Des Kaisers Wüten liest sich wie eine Vorhersage des Zweiten Weltkrieges. Während die Meinungen über Sinn und Unsinn der britischen Kriegserklärung vom 4. August 1914 geteilt sind, gilt auf der Insel der Zweite Weltkrieg unumstritten als „gerechter“ Krieg, doch die Unterscheidung trügt. Bei dem Entschluss zum Krieg gegen Hitler am 3. September 1939 handelte es sich nicht um einen Kreuzzug für die Demokratie, geschweige denn um eine Rettungsaktion der europäischen Juden, sondern um einen machtpolitischen Existenzkampf, der unausweichlich geworden war, sollte der militärischen Expansion des Deutschen Reiches Einhalt geboten werden. Mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 war ebenso wie mit dem Einmarsch der kaiserlichen Armee in Belgien am 3. August 1914 eine rote Linie überschritten worden, die ohne den Kriegseintritt Großbritanniens mit großer Wahrscheinlichkeit zur Eroberung des Kontinents geführt hätte.

Die Opfer, die Großbritannien und sein Empire erbringen mussten, sollten sich als weitaus schrecklicher erweisen, als sich überhaupt jemand vorstellen konnte, als der Krieg begann. Aber sie waren ein notwendiges Übel und nicht die Folge von Fehlentscheidungen einer weltabgewandten Elite in London, die schlafwandelnd in einen sinnlosen Krieg hineingeschlittert ist.

Der Historiker John C.G. Röhl lehrte bis zur Emeritierung an der Universität Sussex. Seine dreibändige Biografie „Wilhelm II.“ (Verlag C.H. Beck) ist ein Standardwerk. Übersetzung: Oliver Das Gupta.

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John C.G. Röhl
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