Der Euro war von Beginn an ein politisches Projekt zur Stärkung der europäischen Integration. Doch der Weg widersprach dem Ziel: Die Währungsunion (EWU) wurde nach den Leitlinien des Neoliberalismus konzipiert und umgesetzt. Diese Ideologie schwächt die Realwirtschaft (durch Ent-Fesselung der Finanzmärkte) und den Sozialstaat, beides Stärken des traditionellen europäischen Modells. Der Vorrang von Markt vor Politik, Konkurrenz vor Kooperation und die „Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit“ als Allheilmittel unterminieren die Integration Europas. Nicht das Projekt der gemeinsamen Währung an sich, sondern seine neoliberale Umsetzung hat Europa immer tiefer in die Krise geführt.
Erschwerend kommt hinzu: Die neoliberale Weltanschauung dominiert in Deutschland in viel höherem Maß als im übrigen Europa. Daher setzte sich das mächtigste EU-Land auch in den Disziplinen Sozialabbau und Staatsverschlankung an die Spitze und verbesserte seine Konkurrenzfähigkeit durch Lohnzurückhaltung zu Lasten vor allem der südeuropäischen Euro-Länder. Unter diesen Bedingungen mussten Finanzkrise und Sparpolitik Südeuropa in eine Depression treiben.
Weg in die Krise
Rekapitulieren wir, wie die neoliberale „Navigationskarte“ Europa in die Krise führte. In den 1990er-Jahren schränkte die Vorbereitung auf die Währungsunion – Maastricht-Kriterien, Statut der Europäischen Zentralbank (EZB) – den Handlungsspielraum der Politik ein, gleichzeitig ließen Finanzinnovationen (Derivate) die Börsen boomen. Beide Entwicklungen entsprechen der neoliberalen Ideologie – diese legitimiert die spezifischen Interessen des Finanzkapitals und nicht die des Realkapitals.
Ein Jahr nach Inkrafttreten der Währungsunion 1999 kippte der Aktienboom in einen ersten Crash, die Industrieländer schlitterten in eine Rezession, die Staaten erlitten daher höhere Defizite. Die nachfolgende Sparpolitik reduzierte aber nicht die Defizite, sondern das Wirtschaftswachstum, insbesondere in Deutschland: Die Zahl der Arbeitslosen stieg auf mehr als fünf Millionen Menschen, das Staatsdefizit lag mehrere Jahre über den erlaubten drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Nun wurde der neoliberale Kurs verschärft: Hartz IV senkte das Arbeitslosengeld, der Flächentarifvertrag wurde durchlässiger gemacht, neue Formen prekärer Beschäftigungsverhältnisse entstanden, die Reallöhne sanken. Gleichzeitig nahm die Produktivität der Arbeitskräfte weiter zu, bis zum Ausbruch der Finanzkrise blieben die nominellen Lohnstückkosten annähernd konstant – sie hätten entsprechend der Zielinflation der Währungsunion aber um zwei Prozent pro Jahr steigen müssen!
Dies wurde zwischen 1999 und 2008 nur deshalb erreicht, weil in den übrigen Euro-Ländern die Lohnstückkosten um 2,5 Prozent pro Jahr stiegen – am stärksten in den am raschesten wachsenden Ländern wie Spanien oder Griechenland (+ 3,5 bzw. 3,3 Prozent pro Jahr).
Das Ausmaß der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands war enorm: Zwischen 1999 und 2008 sanken die Lohnstückkosten im Verhältnis zum Rest der Währungsunion um 19 Prozentpunkte. Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck hat immer wieder darauf hingewiesen, dass dieses Lohndumping die EWU gefährde*. Eine wesentliche Rolle dürfte dabei auch das „Trägheitsprinzip“ gespielt haben: Fast 30 Jahre lang war die Lohnpolitik in Deutschland auch wegen des permanenten Aufwertungsdrucks der D-Mark einem restriktiven Kurs gefolgt. Umgekehrt hatten die Sozialpartner in Südeuropa höhere Lohnsteigerungen zugelassen, weil diese ja durch nachfolgende Abwertungen korrigiert werden konnten. Fatalerweise wurde diese Lohnpolitik nach Inkrafttreten der Währungsunion beibehalten, obwohl die Möglichkeit von Wechselkursanpassungen nicht mehr bestand.
Wie gefährlich diese Entwicklung war, wurde auch deshalb nicht erkannt, weil sie beiden Seiten zu nützen schien: In Deutschland erhielt die Wirtschaft dringend benötigte Impulse vom Importboom der übrigen Euro-Länder, letztere profitierten von einer besseren Versorgung mit Gütern „made in Germany“. Tatsächlich wurde so aber ein Krisenpotenzial aufgebaut, das sich nach Ausbruch der Finanzkrise entladen musste.
Nach dem Aktiencrash 2002/2003 hatte die US-Notenbank die Zinsen radikal gesenkt, der Dollarkurs fiel, Rohstoffpreise, Aktienkurse und Immobilienpreise boomten. 2007/2008 kippten die „Bullenmärkte“ in „Bärenmärkte“: Immobilien-, Aktien- und Rohstoffvermögen wurden gleichzeitig entwertet – erstmals seit 1929. Die Weltwirtschaft schlitterte in die größte Krise seit den 1930er-Jahren. Spekulation auf den Staatsbankrott der südeuropäischen Euro-Länder trieb die Zinsen ihrer Staatsanleihen in unfinanzierbare Höhen. Die dadurch erzwungene Sparpolitik führte in die Depression, diese breitete sich auf die gesamte Europäische Union (EU) aus.
„New Deal für Europa“
Fazit: Die neoliberal-finanzkapitalistische „Spielanordnung“ selbst stellt die Hauptursache der Krise Europas dar, sie kann nur durch umfassende Änderungen der Anreizbedingungen behoben werden, die das Gewinnstreben von der Finanzalchemie zur Realwirtschaft verlagern („New Deal für Europa“): Destabilisierende Finanzspekulationen müssen eingeschränkt, öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Umwelt und Bildung ausgebaut, der soziale Zusammenhalt muss – auch durch eine europaweite Mindestsicherung – gestärkt, die Lohnpolitik entsprechend der Produktivitätsentwicklung und der Zielinflation von zwei Prozent koordiniert werden.
Erste Etappe des Kurswechsels: eine expansive Fiskal- und Lohnpolitik Deutschlands. Die wichtigste Volkswirtschaft der EU verfügt ja über den größten budgetpolitischen Spielraum und hat gleichzeitig den größten Nachholbedarf im Bereich der Lohnstückkosten. Daher sollten die deutschen Löhne nicht nur im Ausmaß der Zielinflation (zwei Prozent) und der Stundenproduktivität (etwa 1,5 Prozent) steigen. Zusätzlich müssten die seit 1999 im Verhältnis immer mehr hinter den übrigen Euro-Ländern zurückbleibenden Lohnstückkosten ausgeglichen werden – die deutschen Löhne müssten dafür über fünf Jahre um etwa drei Prozentpunkte rascher steigen.
Eine solche Fiskal- und Lohnpolitik würde der europäischen Wirtschaft dringend benötigte Impulse geben, die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen verringern und die Gefahr der Deflation im Euro-Raum bannen.
Geschieht dies nicht, wird Deutschland einen Großteil seiner angehäuften Leistungsbilanzüberschüsse verlieren. Denn ein Gläubigerland kann nur dann seine Forderungen erstattet bekommen, wenn es den Schuldnern die Möglichkeit der Tilgung einräumt. Dazu muss es seine Leistungsbilanz in ein Defizit drehen, dem Ausland also mehr abkaufen als es selbst verkauft. Gelingt dies dem Gläubigerland nicht, so werden seine über viele Jahre akkumulierten Netto-Exporte zu Geschenken an das Ausland – „Exportweltmeistertum“ endete in der Wirtschaftsgeschichte immer so.
Ersparnisse verloren
Dieser Prozess ist schon im Gang: Zwischen 2002 und 2013 hat Deutschland insgesamt Finanzvermögen in Höhe von 1 615 Milliarden Euro gebildet. Von dieser Gesamtsumme seiner jährlichen Ersparnisse (Exportüberschüsse) sind 53 Prozent durch Bewertungsverluste und die Finanzkrise bereits verloren: Der Wert des deutschen Netto-Finanzvermögens („Sparguthaben“) stieg zwischen 2002 und 2013 lediglich um 763 Milliarden Euro.
Gewiss: Auch die Produktion von Geschenken an das Ausland schafft Arbeitsplätze, doch wäre es nicht besser, wenn sich Deutschland selbst beschenkt? Etwa mit Investitionen in das Bildungs- und Sozialsystem, in Umwelt und Infrastruktur und mit Verbesserungen der Lebens- und Entfaltungschancen junger Menschen.
Stephan Schulmeister, Wirtschaftsforscher und Universitätslektor in Wien
Der Artikel erschien in der E&W 1/2015