In der Ausgabe Mai-Juni 2015 der hlz erschien ein Artikel über die Ergebnisse der Anmelderunde 2015 in die 5. Klassen. In Balken- und Tortendiagrammen ist deutlich und klar zu erkennen: „Sag mir wo du wohnst und ich sag dir, was du wirst“. Leider gab es keinen Folgeartikel in der hlz, keine weiteren Reaktionen, kein Titelthema, nichts. Bildung ist ein Privileg der „sozial Bevorzugten und eher Bevorzugten“, früher sagte man „der Reichen“. Das ist eigentlich nichts Neues. Aber ist das ein Grund, stillschweigend darüber hinweg zu sehen, die Diskussion gar nicht führen zu wollen? Die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen schreitet voran und wir stellen dies nicht in Frage, da es gesellschaftlich gewollt ist? Der Schrei nach Facharbeiter_innen aus der Wirtschaft wird gehört. Aber dort, wo sie herkommen könnten, herrscht Stillstand. Pädagogische Schlagworte wie ,Individuelles Lernen‘ und ,Inklusion‘ werden täglich genannt. Aber machen wir uns da nicht selbst etwas vor?
Im Hamburger Schulsystem gibt es eine strukturell bedingte soziale Exklusion großer Teile der Schülerschaft von Bildungschancen. Diese soziale Exklusion stellt keinen „Betriebsunfall“ dar und ist natürlich auch keineswegs auf Hamburg beschränkt. Nein, sie gehört zu den konstitutiven Elementen von Schule in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Die objektive Funktion der Schule besteht hier, vereinfacht gesagt, zum einen darin, „der Wirtschaft“ quantitativ und qualitativ ausreichend ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Zum anderen hat die Schule objektiv die Funktion, die gesellschaftlichen sozialen Verhältnisse immer wieder neu zu reproduzieren und dadurch systemstabilisierend zu wirken.
Auf der einen Seite haben wir also die auch in der hlz dargestellte soziale Spaltung der Stadt, die allein schon dramatische Auswirkungen auf den Zugang zu Bildungschancen hat. Auf der anderen Seite sind aber auch die Strukturen des Schulwesens noch immer und sogar wieder im steigenden Ausmaß auf Selektion und damit auf ständigen Ausschluss von Teilen der Schülerschaft ausgerichtet.
Dies kann an dieser Stelle nur schlaglichtartig dargestellt werden:
Die fast flächendeckende Einführung zentraler oder sogar länderübergreifender Abschlussprüfungen fördert die Normierung und steht der proklamierten „Individualisierung“ des Unterrichts entgegen.
Tendenziell die gleiche Rolle spielen die zahlreichen nationalen und internationalen Schulvergleichsstudien, die die Schulen in den letzten Jahren wie eine Lawine überrollt haben.
Die Schulen treffen mit der Behörde Ziel- und Leistungsvereinbarungen, die an „Indikatoren“, messbaren Ergebnissen, ausgerichtet sind und deren Ergebnisse von externen Schulinspektoren überprüft werden. Das Ziel ist die „Exzellenz“, also die hervorragende Leistung. Das System läuft auf kurz oder lang darauf hinaus, dass diese Ergebnisse dann Grundlage für die Mittelzuweisung an die Schule werden. Statt besonderen Förderbedarf und andere notwendige ausgleichende Maßnahmen zu berücksichtigen (Input-Steuerung), soll die Erfüllung der „Indikatoren“ die Mittelzuweisung begründen (Output-Steuerung).
Ist der Gedanke abwegig, dass auch der Beitrag des einzelnen Kollegen und der einzelnen Kollegin zur Erfüllung der „Indikatoren“ in den Blick genommen und zum Beispiel bei der Verteilung von Leistungszulagen und dem Aufstieg in der Besoldung berücksichtigt wird? Dies hätte zur Folge, dass sich zunehmend auch die Kolleginnen und Kollegen nur an den „Indikatoren“ orientieren werden und sich ihr Blick weniger auf die förderungsbedürftigen Schülerinnen und Schüler richtet.
Auch die Eltern sind ganz und gar in dieses auf Selektion und Exklusion ausgerichtete Schulsystem eingestimmt. „Aufstieg durch Bildung“ heißt im Kampf um die begrenzte Zahl von Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsplätzen auch Konkurrenz zwischen den Schülerinnen und Schülern. Deshalb fordern Eltern die optimale Förderung ihres Kindes ein. Ein schwächerer Schüler ist ein Konkurrent weniger für das eigene Kind.
In dieses System wird nun die „Inklusion“ von Schülerinnen und Schülern aller Leistungsstufen in die Regelschule implantiert. Ein Fortschritt? Vielleicht gar ein Umdenken der politisch Verantwortlichen, die statt auf Selektion nun auf die gemeinsame Beschulung aller Kinder und Jugendlichen in einer Schule für Alle setzen? Leider ist dem nicht so. Alle oben genannten Rahmenbedingungen einer auf sytemimmanente Selektion und Exklusion orientierenden Schule bleiben erhalten. Die Selektion wird sogar noch verschärft, indem die Inklusion fast ausschließlich den Stadtteilschulen aufgebürdet wird und nicht allen allgemeinbildenden Schulen, also auch den Gymnasien.
Wie soll das gehen? Es geht nicht: Die Inklusion droht – bewusst oder unbewusst – gegen die Wand zu fahren. Die Kolleginnen und Kollegen an den Stadtteilschulen haben in den letzten Jahren gewaltige Anstrengungen unternommen, um die Inklusion aufs Gleis zu setzen. Viele sind an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinaus gekommen. Der Spagat zwischen geforderter Leistungssteigerung und wachsendem Förderbedarf bei gleichzeitig sinkender materieller Ausstattung ist nicht leistbar und wirkt selbstzerstörend. Immer mehr Eltern sehen ihre eigenen Kinder als Leidtragende.
Die gravierenden Mängel im System der Inklusion sehen heute durchaus viele. Aber dies führt nur selten dazu, die real existierende „Inklusion“ in Frage zu stellen. Die Diskussion darum sollte in der GEW offen geführt werden. Der Artikel von Clemens Knobloch in der hlz ist hierfür ein guter Startpunkt. Viele fragen sich, ob die Inklusion nicht trotz ihrer Mängel der richtige Weg ist, um ein Beispiel zu schaffen, dass die gemeinsa- me Beschulung aller Kinder und Jugendlichen unabhängig von dem aktuellen Stand ihrer intellektuellen Entwicklung nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist. Ich meine, das ist nur der Fall, wenn dafür auch die notwendigen personellen und sächlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Sonst wirkt ein im Grundsatz richtiger Ansatz nur kontraproduktiv. Nur ein Beispiel: Das Versprechen, die Klassen an Regelschulen, die Kinder mit besonderem Förderbedarf beschulen, klein zu halten, wird jeden Tag neu gebrochen. In so großen Lerngruppen mit zu wenigen Fördermöglichkeiten erfahren die betroffenen Kinder bewusst, dass sie anders und weniger leistungsfähig sind. Damit wird die Inklusion zum Gegenteil – zur Erfahrung von Ausgrenzung.
Dass es durchaus auch anders ginge, haben die Integrationsklassen an den Grundschulen und Gesamtschulen über viele Jahre mit Erfolg gezeigt. Sie stießen bei Lehrkräften, Eltern sowie Schülerinnen und Schülern auf große Akzeptanz und konnten beispielgebend für gemeinsamen Unterricht wirken. Allerdings wurde dabei auch klar, dass gemeinsamer Unterricht teurer ist als selektiver.
Wenn der Schulsenator heute sagt, dass die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf in das Regelschulwesen nicht teurer werden soll als deren Beschulung in Sonderschulen, dann sind die realen Absichten dahinter klar: Ein „Leuchtturm“ für ein integriertes Schulwesen ist gar nicht gewollt. Dazu passt, dass – wie oben dargelegt – alle Rahmenbedingungen eines auf Selektion ausgerichteten Schulwesens erhalten geblieben sind. Dabei ist doch offensichtlich: Echte Inklusion darf nicht bei der Eingliederung von lernbehinderten Kindern in die Regelschule stehenbleiben. Konsequenterweise muss die Inklusion aller Kinder gefordert werden, damit die Schule die soziale Spaltung nicht weiter zementiert, sondern einen Beitrag dazu leistet, diese aufzubrechen.
Übersetzt heißt das: Die Forderung „Eine Schule für Alle!“ ist aktueller denn je. Das Hamburger Modell der Inklusion dagegen verdient seinen Namen nicht. Es stellt eine mit großem ideologischem Brimborium und allerlei rhetorischem Beiwerk ausgeschmückte Sparmaßnahme dar, die sich gegen die Interessen eines Großteils der Schülerinnen und Schüler und der Beschäftigten an den Schulen richtet.
Heiko Humburg (StS Horn)
Der Artikel erschien in der hlz 1-2/2016
Bild: Thomas Plassmann