Die Kita-Schließungen verändern das Verhältnis zwischen Trägern und Beschäftigten. Diese stecken im Zwiespalt zwischen größtmöglichen Öffnungen für die Kinder und deren Familien – und dem Gesundheitsschutz der Erzieherinnen und Erzieher.
08.06.2020 - Sven Heitkamp, freier Journalist
Mitten in der Corona-Krise hat Kita-Träger FRÖBEL Mut bewiesen und die Erzieherinnen und Erzieher nach ihrer Meinung gefragt. Als überregionaler Anbieter mit fast 4.000 Beschäftigten bekam die Führung bei diesem Stimmungstest deutlich Ängste gespiegelt. „40 Prozent der Beschäftigten plädierten dafür, die Notbetreuung so lange aufrecht zu erhalten, bis ein Impfstoff gefunden wird“, erzählt FRÖBEL-Geschäftsführer Stefan Spieker. Ein Ergebnis mit Konsequenzen. „Wir wollen natürlich Eltern in ihrer Not entgegenkommen und unseren Beitrag beim Hochfahren der Kitas leisten“, sagt Spieker. „Aber Politik, Verwaltung und Eltern müssen sich bewusst sein, dass die Fachkräfte in den Einrichtungen große Sorgen vor einer möglichen Ansteckung haben.“
Während in allen anderen Lebensbereichen mit 1,50-Meter-Abständen, Mundschutz und Desinfektion für Schutz gesorgt werde, könnten sich Erzieherinnen und Erzieher im Umgang mit jungen Kindern kaum abschirmen und schützen. Besonders kleine Kinder brauchten Nähe, keinen Abstand. „Kuscheln verträgt keinen Schutzanzug“, betont Spieker. „Mit dieser Situation müssen wir alle verantwortungsvoll umgehen und größtmögliche Vorsicht und Sicherheit beim Hochfahren walten lassen.“ Wichtig sei auch eine strikte Trennung der Gruppen. „Wenn Gruppen nicht eindeutig zueinander abgeschlossen sind, muss bei einem einzigen Infektionsfall eine ganze Einrichtung vorübergehend schließen“, warnt Spieker.
Gemessen an diesen Wünschen haben Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten bei ihren Corona-Lockerungen am 6. Mai einigermaßen Sorgfalt walten lassen. Lediglich die Notbetreuung solle durch flexible, stufenweise Erweiterungen ausgeweitet werden, lautete der Beschluss der Telefonkonferenz. Kinder wollten zwar wieder in ihr normales Leben zurück, aber: „Das dauert“, betonte Merkel vor der Presse. Bis zu den Sommerferien solle wenigstens jedes Kind am Übergang zur Schule noch einmal die Kita besuchen können. Einzelheiten regeln seither die Länder und preschen mitunter mit eingeschränktem Regelbetrieb vor.
Notbetreuung stößt an Grenzen
Maria Loheide, Vorständin für Sozialpolitik bei der Diakonie Deutschland, warnt daher vor einem bundesweiten Flickenteppich: „Für Familien muss transparent und nachvollziehbar sein, wie die nächsten Schritte aussehen.“ Die Öffnung der Kitas könne nur schrittweise erfolgen. „Die Frage ist, wann wir an Grenzen stoßen.“ Kolleginnen und Kollegen, die durch die Krise emotional und psychisch stark belastet sind, seien derzeit nur schwer einsetzbar. „Wir können nicht von heute auf morgen den Schalter umlegen“, sagt Loheide. Welche und wie viele Kinder eine Kita aufnehme und wie hoch man zugleich den Infektionsschutz bewerte, sei auch eine zentrale ethische Frage, die intensiv in der Diakonie mit Experten diskutiert werde.
Tatsächlich sind die Lockerungen in der Corona-Krise besonders für Kitas eine Wanderung auf einem schmalen Grat: Während viele Erzieherinnen und Erzieher eine Covid-19-Erkrankung fürchten, wollen andere Kolleginnen und Kollegen, dass ihre Einrichtungen allmählich wieder öffnen. Bei 36 Prozent der Fachkräfte in der FRÖBEL-Umfrage überwog nämlich die Angst vor Kurzarbeit. Zugleich aber hat FRÖBEL in einem Simulationsmodell gezeigt, dass man bei Kleingruppen mit bis zu zehn Kindern nur etwa die Hälfte der Kapazitäten anbieten könne.
Drastische Maßnahmen wie Kurzarbeit, Zwangsurlaub und Veränderung des Arbeitsumfangs kamen für die Beschäftigten laut den Vorständen der freien Träger bisher aber höchstens in Ausnahmefällen vor. „Bevor wir jemanden in Kurzarbeit schicken, lassen wir lieber fachfremde Aufgaben übernehmen“, betont zum Beispiel Frank Jansen, Geschäftsführer des Verbandes Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK), der 8.000 katholische Kitas mit mehr als 100.000 Fachkräften vereint.
Tatsächlich können nach dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz „SodEG“, das wegen der Krise eilig verabschiedet wurde, Erzieherinnen und Erzieher auch für andere Aufgaben eingesetzt werden, die für die Bewältigung der Krise nötig sind. In der Praxis sei dies aber nicht der Fall, berichten die Verantwortlichen bei freien Trägern unisono. Denn unter Einnahmeausfällen leiden die freien Kita-Träger kaum, seit Länder und Kommunen in der Regel beschlossen haben, ausfallende Elternbeiträge zu übernehmen. Überstunden und Resturlaub aus dem Vorjahr mussten allerdings allerorten genommen werden.
In den Kitas der Kommunen war die Lage mitunter anders: „Einige Beschäftigte, die sonst in der Kinderbetreuung in kommunaler Trägerschaft arbeiten, haben zum Beispiel andere Aufgaben in der Jugendhilfe übernommen“, berichtet Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages auf Anfrage. Sie wurden etwa als Unterstützung für die Telefonhotlines der allgemeinen sozialen Dienste eingesetzt, die Familien Hilfen zur Erziehung anbieten. „Hier gab es während der Kontakteinschränkungen durch Corona erhöhten Bedarf“, so Dedy.
Bei den schrittweisen Lockerungen werde es nun eine besondere Herausforderung für das Personal, neue Betreuungssettings zu organisieren – zum Beispiel, dass Kinder tageweise abwechselnd die Kitas besuchen. Wegen der Abstandsregeln müssten nicht nur Gruppen neu aufgeteilt, sondern auch Essens- und Spielzeiten abgestimmt und Betreuungszeiten angepasst werden. „Das erfordert von den Erzieherinnen und Erziehern viel Flexibilität und Einsatzkraft“, sagt Dedy.
Tatsächlich stößt die Notbetreuung in Kleingruppen von fünf bis zehn Kindern personell an ihre Grenzen. „Ein erheblicher Teil des Personals zählt zu den Risikogruppen“, betont Björn Köhler, GEW-Vorstand für Jugendhilfe und Sozialarbeit. „Fast 30 Prozent der Fachkräfte sind aktuell über 50 Jahre alt.“ Hinzu kämen Kolleginnen und Kollegen mit Vorerkrankungen oder mit Risikopersonen in der Familie. „Diese Menschen können nicht für eine Betreuung herangezogen werden“, sagt Köhler. In 22 Prozent der Teams sei sogar mindestens die Hälfte des Personals über 50 Jahre alt. „Dort dürfte selbst ein reduzierter Betrieb schwierig werden.“
Köhler legt zudem Wert auf ein paar Feststellungen zum Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Gefährdungsbeurteilungen des Arbeitsplatzes müssten an die Pandemie angepasst werden und die verstärkten Reinigungs- und Desinfektionsarbeiten sichergestellt sein, ohne sie den Fachkräften zusätzlich aufzubürden. Betriebsschließungen und Kurzarbeit oder andere arbeitsrechtliche Schritte bedürften der Zustimmung des Betriebsrats. „Auch wenn eine schrittweise Öffnung der Kitas aus pädagogischen Gründen sinnvoll und notwendig ist, brauchen die Träger Zeit, sich auf den Infektionsschutz und veränderte pädagogische Konzepte vorzubereiten“, sagt Köhler. „Diese Zeit müssen Politik, Wirtschaft und Familien ihnen lassen.“ Dabei könne es keine bundesweit einheitlichen Antworten geben, sondern nur lokale Lösungen zusammen mit den Gesundheitsbehörden.
Zu wenig Platz
Neben den Personal-Engpässen reichen irgendwann auch die Räume nicht mehr aus. „In vielen unserer Mitgliedseinrichtungen werden bereits zusätzliche Kapazitäten organisiert, etwa in Pfarrhäusern und auf umliegenden Spiel- und Sportplätzen“, erzählt Jansen. Zudem empfiehlt der KTK-Bundesverband, Mitarbeitende in Teilzeit, Elternzeit oder im Ruhestand für eine Unterstützung zu gewinnen – ebenso wie zusätzliche Kräfte wie Tagespflegepersonen, Studierende pädagogischer Studiengänge, Babysitter, FSJler und BuFDis*.
Bei der Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und Bedürfnissen der Gesellschaft habe für den katholischen Verband zunehmend die Solidarität mit den Familien Priorität – besonders bei Kindern, die aus prekären Lebenssituationen kommen oder erhöhten Förderbedarf haben. „Neben dem Infektionsgeschehen müssen wir zwingend wieder die Belastungen der Familien und die Entwicklungsbedarfe der Kinder in den Blick nehmen“, sagt Jansen.
Digitalpakt Kita
In den ersten Wochen offenbarte das Herunterfahren der Kitas auch Vorteile für die inhaltliche Arbeit: Die Beschäftigten, die nicht in der Notbetreuung eingesetzt waren, hätten viel Zeit in die Fortentwicklung der Konzepte und des Qualitätsmanagements investiert, erzählt Jansen. „Wir frischen Dokumentationen auf und überarbeiten Prozesse. Viele Erzieherinnen haben auch Familien besucht oder Kontakte zu Kindern über den Kita-Zaun gehalten.“ Eine der Lehren aus der Corona-Zeit sei indes ein dringend nötiger Ausbau der digitalen Kita-Ausstattung. „Wir brauchen neben dem Digitalpakt Schule dringend einen Digitalpakt Kita.“
FRÖBEL hat bereits Fakten geschaffen und für seine knapp 200 Kitas 600 zusätzliche Tablets vor allem zum Verleih an Familien angeschafft, erzählt Geschäftsführer Spieker. Und nicht nur das: Wo Räume renoviert wurden, haben Erzieherinnen für die Kinder virtuelle Führungen durch die neu gestalteten Zimmer veranstaltet, sie haben auf dem hauseigenen YouTube-Kanal Kochstunden mit dem Kita-Koch hochgeladen und Online-Sprachförderung für Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache angeboten. Zudem haben die Erzieherinnen und Erzieher zunehmend neue Onlineseminare mit Partnern wie dem „Haus der kleinen Forscher“ genutzt.
Die Diakonie hat fast alle ihrer mehr als 9.000 Kitas offengehalten und Notbetreuung organisiert, erzählt Vorständin Loheide. Viele Kinder hätten die intensive Betreuung in kleinen Gruppen sehr genossen. Die Hygieneregeln könne man mit ihnen auch spielerisch lernen. Kolleginnen und Kollegen, die nicht in der Notbetreuung sind, halten derweil über Anrufe und Mails Kontakt zu Familien und nutzen Zeit für konzeptionelle Arbeit: „Wir bemängeln oft, dass nicht genügend Zeit für inhaltliche Arbeit ohne Kinder ist – das ist nun möglich.“
* FSJ: Freiwilliges Soziales Jahr, BuFD: Bundesfreiwilligendienst
Foto: Helene Souza / pixelio.de