Der Countdown läuft: Bis November 2024 muss Deutschland die EU-Mindestlohnrichtlinie umsetzen und einen Aktionsplan vorlegen, um die Tarifbindung auf 80 Prozent zu steigern
Die DGB-Gewerkschaften blicken auf ein erfolgreiches Jahr 2023 mit teils historischen Abschlüssen zurück und erwarten 2024 ein Mega-Tarifjahr: „Es ist überdeutlich geworden, dass Tarifverträge ein wirksames Mittel gegen die soziale Spaltung und für den Schutz der Beschäftigten sind. Deswegen sagen wir sehr nachdrücklich: Wer Tarifflucht betreibt, nimmt die soziale Spaltung in Kauf, was letztlich rechtspopulistischen Kräften Auftrieb gibt. Mit 2024 steht ein Mega-Tarifjahr ins Haus, in dem wir selbstbewusst und kämpferisch für etwa 12 Millionen Beschäftigte bundesweit neue Tarifverträge verhandeln“, sagt Tanja Chawla, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Hamburg.
Es ist jetzt an der Zeit, der wachsenden Tarifflucht der Arbeitgeber entgegenzuwirken: „Auch Hamburger Unternehmen entziehen sich ihrer Verantwortung und begehen Tarifflucht. Nur noch 46 Prozent der Beschäftigten sind tarifgebunden. Bei Thalia, MOIA und nicht zuletzt in Hagenbecks Tierpark kämpfen die Beschäftigten darum, wieder von dem Schutz eines Tarifvertrages profitieren zu können“, so Chawla.
„Durch die Tarifflucht der Unternehmen verdienen die Beschäftigten nicht nur weniger, sondern die Unternehmen verlieren auch deutlich an Attraktivität für die dringend gesuchten Fachkräfte. Denn die Datenlage zeigt: Tarifverträge sichern Beschäftigung, fördern die Entgeltgerechtigkeit und gestalten aktiv die Veränderungen der Arbeitswelt unter dem Stichwort Transformation. Insbesondere die Steigerung der Kaufkraft niedriger und mittlerer Einkommen stärkt den Konsum und damit die Wirtschaftsleistung unseres Landes“, so die DGB-Vorsitzende.
Die DGB-Gewerkschaften erwarten, dass der gefährlichen Tarifflucht ein Riegel vorgeschoben wird. Das erwartet auch die EU-Kommission: Deutschland hat noch bis November 2024 Zeit, um die Mindestlohnrichtlinie umzusetzen und einen Aktionsplan zu entwickeln mit dem Ziel eine Tarifbindung von 80 Prozent zu erreichen. „Die Bundesrepublik, aber auch Hamburg als Stadtstaat sind davon weit entfernt. Deswegen starten wir jetzt unsere Kampagne „Eintreten für die Tarifwende“. Zusätzlich wollen die Gewerkschaften im neuen Jahr ein Tariftreuegesetz erreichen, das diesen Namen verdient. Öffentliche Fördergelder und Aufträge sollen nur noch an Unternehmen gehen, die Tarifverträge anwenden“, so Hamburgs DGB-Vorsitzende.
Die Spitzenvertreter*innen der Hamburger DGB-Gewerkschaften unterstrichen heute auf einer gemeinsamen Pressekonferenz die Notwendigkeit einer stärkeren Tarifbindung und kräftige Erhöhungen der Tariflöhne und gaben einen Ausblick auf ein kämpferisches Jahr 2024.
Sven Quiring, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Hamburg:
„Die Schulen in Hamburg sind in öffentlicher Trägerschaft und damit tarifgebunden. Allerdings vergibt die Schulbehörde Aufgaben wie Catering, Reinigung, Schulbegleitung etc. an externe Dienstleister, die keine Tarifverträge anwenden und die Beschäftigten unter Tarif bezahlen. Auch die Arbeitsbedingungen sind dort deutlich schlechter. Wir fordern die Behörde auf, Aufträge ausschließlich an tarifgebundene Unternehmen zu vergeben. Zudem kann die Behörde die Vergabe von Aufträgen an eine Bezahlung nach TV-L knüpfen. Im Bereich der Weiterbildung fordert die GEW einen Branchentarifvertrag, der sowohl Mantelregelungen wie z.B. zu Arbeitszeit, Höchstzahl von Unterrichtsstunden und Weiterbildungsansprüche für die Beschäftigten, als auch eine Entgelttabelle enthalten soll. Dadurch sollen endlich gerechte Arbeitsbedingungen in der Branche, in der bisher das Prinzip der ‚working poor‘ dominiert, festgelegt werden.“
Sandra Goldschmidt, Landesbezirksleiterin Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) Hamburg:
„Wir sehen zum Beispiel im Einzelhandel eine erschreckend niedrige Tarifbindung von 17 Prozent im Bundesdurchschnitt. Das ist besonders dramatisch, weil die Löhne und Gehälter im Einzelhandel schon jetzt als Folge hohen Inflation der letzten Jahre kaum zum Leben reichen, und für viele der – überwiegend weiblichen – Beschäftigten in die Altersarmut führen. In Hamburg erleben wir mit den Thalia-Buchhandlungen ein klassisches Beispiel dafür, dass sich Unternehmen durch Tarifflucht einen Wettbewerbsvorteil auf Kosten der Beschäftigten verschaffen.“
Ina Morgenroth, Erste Bevollmächtigte und Geschäftsführerin IG Metall Region Hamburg:
„MOIA verweigert seinen rund 1.300 Beschäftigten in Hamburg seit Monaten Verhandlungen für eine Tarifbindung. Dies begründet der Arbeitgeber mit fehlenden finanziellen Mitteln. Gerade erst hat MOIA 6 Mio. Euro Fördermittel vom Staat erhalten. Trotzdem sind sie nicht bereit, ihre Beschäftigten besser zu bezahlen. Aktuell verdienen diese knapp über dem Mindestlohn. Seit zwei Jahren organisieren sich die Beschäftigten, um gemeinsam mit der IG Metall einen Tarifvertrag durchzusetzen. Und sie werden kämpfen, bis sich ihre Arbeitsbedingungen verbessert haben. Eine Tarifbindung würde dem Prestigeprojekt zu autonomem Fahren des mächtigen VW-Konzerns und der Stadt Hamburg gut zu Gesicht stehen.“
Jan Koltze, Bezirksleiter der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) Hamburg:
„Wir sind in Hamburg ein starker Industriestandort und wollen das auch bleiben. Es gibt keine Zeit für Klagelieder. Wir nehmen die Transformation in die Hand: Die deutsche Industrie muss bis 2045 klimaneutral werden. Ziel muss es sein, Deutschland und Europa zum internationalen Vorreiter für die smarte Transformation zu machen. Dazu braucht es mutige politische Entscheidungen, aktive Industriepolitik und den Anschub gewaltiger Investitionen. Klar ist, Transformation geht nur gemeinsam mit den Beschäftigten. Die Mitbestimmung und die Tarifbindung müssen dafür gestärkt werden, denn mit qualifizierten und motivierten Beschäftigten, die den Umbau der Industrie aktiv mitgestalten, wird der Wandel gelingen.“
Alexander Kahl, Stellvertretender Bezirksvorsitzender der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) Hamburg:
Die Baubranche steht vor einem herausfordernden und kämpferischen Jahr 2024! Volle Auftragsbücher im Tiefbau, einbrechende Nachfrage im Wohnungsbau. Großprojekte wie der Elbtower stehen, Finanzierungen wackeln. Die Stadt und der Bund müssen hier gegensteuern, Investitionsanreize setzen und die Schuldenbremse reformieren! Außerdem brauchen wir 2024 einen stabilen Tarifabschluss für das Bauhauptgewerbe, für ein attraktives Gewerbe, um Fachkräfte nicht zu verlieren und der vergangenen hohen Inflation entgegenzuwirken. Auch in der Gebäudereinigung stehen Tarifverhandlungen an. Hier steht im Fokus: die Zahlung des 13. Monatseinkommens (ME) sowie die ausstehende Inflationsausgleichsprämie! Ebenso im Tierpark Hagenbeck erwarten wir in 2024 einen Tarifabschluss, den sich die tapferen Mitarbeitenden mehr als verdient haben! Stichwort Vergabegesetz: Wir erwarten, dass eine angemessene Novellierung des Hamburgischen Vergabegesetzes dieses Jahr endlich zum Abschluss kommt.
Silke Kettner, Geschäftsführerin der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Region Hamburg-Elmshorn:
„Inflation frisst Einkommen, für viele war das die bittere Realität im Jahr 2023. Als NGG haben wir das in unseren Tarifverträgen für die Ernährungsindustrie vielfach auffangen können. Bis zu 350 Euro mehr, das ist ein Plus von ca. 15 Prozent, gab es zum Beispiel in der Süßwarenindustrie, und in diesem Jahr finden bereits neue Verhandlungen in der Branche statt. Das kam nicht aus dem Nichts – in Hamburg hatten wir 2023 keine Tarifrunde ohne Streik – die Beschäftigten haben sich für ihre Einkommen selbst kräftig ins Zeug gelegt und so selbst für ihr Lohnplus gesorgt.“
Horst Niens, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Hamburg
„Die GdP Hamburg hat erfolgreich für einen positiven Ausgang im Tarifstreit des öffentlichen Dienstes der Länder gekämpft. Der erzielte Tarifabschluss wird nun auf die verbeamteten Kolleginnen und Kollegen, sowie die Versorgungsempfänger*innen übertragen, was wir als Ausdruck der Verlässlichkeit und Anerkennung betrachten. Das ist ein großer gewerkschaftlicher Erfolg!“
Frank Maur, Geschäftsführer der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) Hamburg
„Wir haben in diesem Jahr einige kleinere Tarifverhandlungen zu führen. Aber insgesamt ist auch im Organisationsbereich der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft festzustellen: Nur Tarifbindung stellt faire und gute Arbeitsbedingungen her und sicher.“