Rein rechtlich darf jede Grundschule in Deutschland Kinder ohne Papiere aufnehmen. Jetzt geht es darum, dass diese Information auch in der Praxis ankommt, denn eine aktuelle GEW-Studie zeigt, dass nur jede dritte Schule das Recht der papierlosen Kinder auf Schulbesuch problemlos umsetzt.
Eine Schulanmeldung ohne Meldebestätigung: Das ist kein Problem für Leo Fischer*, Leiter einer Grundschule im Hamburger Osten. Seit Jahren werden in der Ganztagsschule auch Kinder ohne Aufenthaltspapiere beschult. Deren Familien leben ohne Aufenthaltsrecht, Gestattung oder Duldung – und damit ohne Kenntnis der Ausländerbehörde – in Hamburg. Deshalb können sie bei der Anmeldung keine Meldebestätigung vorlegen. „Wir nehmen das Kind dennoch in die interne Verwaltung auf“, erläutert der Schulleiter. „Am wichtigsten ist es für uns, eine Kontaktadresse und die Telefonnummer der Eltern zu haben, unter der sie im Notfall zu erreichen sind“, so Fischer. Maßgeblich für sein Handeln sei die Überzeugung, dass „jedes Kind ein Recht auf Schulbesuch hat und die Schulanmeldung nicht an den Papieren scheitern darf“.
Einer solch klaren Haltung begegneten Yasemin Karakaşoğlu, Dita Vogel und Barbara Funck nur vereinzelt während der Interviews für ihre aktuelle Studie „Es darf nicht an Papieren scheitern – Theorie und Praxis der Einschulung von papierlosen Kindern in Grundschulen“**, die die Max-Traeger-Stiftung der GEW finanziert hat. Die Bremer Erziehungswissenschaftlerinnen wollten mit einer telefonischen Umfrage herausfinden, ob und wie die Anmeldung von Kindern ohne Papiere möglich ist. Das Ergebnis ist deutlich: 62 von 100 befragten Grundschulen in der gesamten Bundesrepublik zeigten keinen Weg auf, um ein papierloses Kind anzumelden. Viele Einrichtungen waren unsicher und verwiesen auf Schulräte oder Schulämter. Doch auch auf dieser Hierarchie-Ebene traf nur die Hälfte der Befragten eine positive Aussage zur Schulanmeldung. „In vielen Schulen fehlt das Bewusstsein dafür, dass jedes Kind ein Recht auf Bildung hat“, stellen die Wissenschaftlerinnen fest. Allerdings, so räumen sie ein, sei der Rechtsanspruch in keinem Bundesland explizit festgeschrieben, sondern lasse sich nur indirekt aus Landesrecht oder internationalem Recht wie der UN-Kinderrechtskonvention ableiten.
Die Zahl betroffener Kinder schätzt Vogel bundesweit auf „einige Tausend bis einige Zehntausend“. Jedoch ist unklar, wie viele von ihnen eine Schule besuchen. In der Untersuchung hatten sieben Prozent der Grundschulen bereits Erfahrung mit der Beschulung papierloser Kinder. Deren Eltern sind irgendwann mit einem Touristenvisum eingereist und hier geblieben, um zu arbeiten. Andere sind nach der Ablehnung des Asylgesuchs untergetaucht. Angesichts der jüngsten Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht, das vor allem Menschen aus den sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ auf dem Westbalkan trifft, rechnet Erziehungswissenschaftlerin Vogel mit einer wachsenden Zahl von Menschen, die untertauchen.
Unabhängig vom Status
Die Studie beschreibt, dass die Schulen nur in Hamburg und Nordrhein-Westfalen Rechtssicherheit durch Klarstellungen des zuständigen Ministeriums erhalten. So steht im Senatsbrief der Behörde für Schule und Berufsbildung aus dem Jahr 2009, dass eine Wohnung in Hamburg sowohl das Recht als auch die Pflicht zum Schulbesuch in der Hansestadt umfasst. Der Wohnort müsse nicht durch eine Meldebestätigung nachgewiesen werden. „Der Schulbesuch darf nicht verwehrt werden, weil keine Meldebescheinigung vorgelegt wird“, heißt es in dem Schreiben. Außerdem wird festgestellt, dass der Schulbesuch unabhängig vom Aufenthaltsstatus sei und dieser weder erfragt noch an die Ausländerbehörde gemeldet werden müsse. Entsprechend haben alle in Hamburg befragten Schu- len eine Möglichkeit zum Schulbesuch aufgezeigt. Der nordrhein-westfälische Erlass war hingegen nicht an allen Schulen und Schulämtern im Bundesland bekannt.
Die befragten Schulen in den neuen Bundesländern, in Rheinland-Pfalz und – mit einer Ausnahme – in Niedersachsen erklärten, dass papierlose Kinder keine Aussicht auf einen Schulbesuch hätten. Auch Schulen in anderen Bundesländern lehnten einen Bildungsanspruch ausdrücklich ab. Viele Schulen, so die Forscherinnen, gingen von der Annahme aus, dass Polizei, Meldeämter oder Ausländerbehörde informiert werden müssen, um sich rechtlich abzusichern. Ein solches Vorgehen hätte fatale Folgen: Um nicht abgeschoben zu werden, müsste die Familie eine neue Wohnung suchen.
Die Schulen befürchteten, mit der Beschulung papierloser Kinder gegen ihre Dienstpflichten zu handeln. Mehr noch: Selbst drei Schulämter gaben an, dass sie anfragenden Schulen rieten, den illegalen Aufenthalt anzuzeigen. Das jedoch sei eine „eindeutig falsche Position“, betonten die Wissenschaftlerinnen. Denn bereits 2011 hat der Bundestag durch eine Änderung im Aufenthaltsgesetz beschlossen, dass Schulen sowie andere Bildungs- und Erziehungseinrichtungen nicht länger verpflichtet seien, Daten an Ausländerbehörden weiterzuleiten. Der Schulbesuch von Kindern ohne Papiere sollte seitdem ohne Angst vor Entdeckung und Abschiebung möglich sein. „Diese Gesetzesänderung ist in der Praxis leider noch nicht überall angekommen“, sagt GEW-Vorsitzende Marlis Tepe.
Der politische Richtungswechsel geschah nicht zuletzt auf Druck von kirchlichen und Menschenrechtsorganisationen sowie durch Lobbyarbeit der GEW. Ein ebenfalls im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung angefertigtes Rechtsgutachten von Peter Fodor und Erich Peter (2005) leitet das Recht statusloser Kinder auf schulische Erziehung aus Grund- und Menschenrechten ab.** Als bürokratische Hürde verwiesen viele Schulen auf die Grundschulzuweisung nach Schulbezirken, stellen die Verfasserinnen der aktuellen Studie fest. Die Schulsekretariate forderten die Vorlage der Meldebescheinigung, um zu überprüfen, ob das Kind tatsächlich im Schuleinzugsbereich wohnt. Alternative Wohnnachweise würden oft nicht akzeptiert. „Offensichtlich ist die grundsätzliche Haltung, dass ein Schulbesuch für Kinder so wichtig ist, dass alle bürokratischen Hindernisse dafür zurückstehen sollten, nicht überall verbreitet“, kommentieren Karakaşoğlu und ihre Co-Autorinnen.
Gutes Netzwerk
Die Mitarbeiterin einer Anlaufstelle für Papierlose in München bestätigt dieses Vorgehen aus eigener Erfahrung. Sie habe versucht, für ein sechsjähriges Kind ohne Papiere einen Schulplatz zu finden. Ein Dutzend Schulen habe sie telefonisch angefragt, aber immer dieselbe Antwort erhalten: Aufgrund des „Sprengel-Prinzips“*** sei eine Meldebestätigung erforderlich. Erschwert wurde die Suche aufgrund fehlender Deutschkenntnisse des Kindes. Sie endete erfolglos.
In Hamburg hat sich ein gut funktionierendes Netzwerk etabliert: Da mittlerweile auch Kinder ohne Papiere kostenfrei und ohne Angst vor Entdeckung die Kita besuchen können (s. E&W 6/2015), übernehmen deren Mitarbeiterinnen häufig die telefonischen Anfragen bei den Schulen. In den Netzwerken sei bekannt, welche Schule Kapazitäten hat, berichtet Kitaleiterin Marina Schreiner*. Wesentlich für den Schulalltag mit papierlosen Kindern ist, dass alle Beteiligten informiert sind, erklärt Martin Bergmann*, ebenfalls Schulleiter in der Hansestadt. „Alle müssen wissen, was im Notfall zu tun ist.“ Die Verantwortlichen kennen im Umkreis Ärzte, die Papierlose behandeln. „Wenn ein Kind ohne Papiere einen Unfall hat, rufen wir selbstverständlich den Notarzt“, sagt ein weiterer Hamburger Schulleiter, der anonym bleiben will. Angemeldete Kinder sind grundsätzlich unfallversichert, auch das hat der Hamburger Senat in seinem Brief klargestellt.
Die Bremer Wissenschaftlerinnen haben aus den Ergebnissen konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet. Damit das Schulrecht papierloser Kinder geklärt ist, empfehlen sie einen Zusatz in den Landesschulgesetzen: „Alle Kinder haben unabhängig vom Aufenthaltsstatus einen Anspruch auf Einschulung.“ Ebenfalls sollte festgehalten werden, dass Daten zum Aufenthaltsstatus nicht weitergegeben werden dürfen. Zudem wird den Kultusbehörden empfohlen, die Schulbehörden regelmäßig über die Rechtslage aufzuklären und Wege für die Beschulung papierloser Kinder aufzuzeigen. „Die GEW wird entsprechende Initiativen in den Bundesländern starten“, kündigte Tepe an.
Michaela Ludwig, freie Journalistin
*Name geändert
**s. www.gew.de/flucht-und-asyl/
*** Zuordnung zu Schulbezirken
Der Artikel erschien in der E&W 12/2015, S. 38 f.
Die Broschüre ist über die GEW Geschäftsstelle erhältlich.