In "normalen" Zeiten würde keine Lehrkraft auf die Idee kommen ihr Kind jeden Tag mit in die Schule zu bringen, um sie dort nebenher zu versorgen. Unterricht bedarf der vollen Konzentration, insbesondere dann, wenn ganze Unterrichtseinheiten abgehalten werden. Aber für das, was ich gegenwärtig selbst erlebe und von Kolleginnen sowie Freundinnen lese und höre, wäre mir bei aller Fantasie und Kreativität, die in mir ruhen, nie in den Sinn gekommen.
So berichtete mir eine befreundete Kollegin, dass es bei ihr an der berufsbildenden Schule die Umsetzung der Behördenanweisung zur Versorgung von Schüler*innen so aussehe, dass die Kolleg*innen via E-Mail von der Abteilungs- und Schulleitung dazu angewiesen wurden, zu den persönlichen Unterrichtszeiten laut Stundenplan vor dem (häuslichen) PC zu sitzen und via E-Mail, Telefonkonferenzen, Audiokonferenzen, Videokonferenzen für die Schüler*innen erreichbar zu sein und Unterricht abzuhalten. Und zwar unabhängig davon, ob parallel dazu Kinder/pflegebedürftige Angehörige zu Hause zu betreuen sind oder nicht. Diese Tatsache wird schlichtweg von der Schulleitung ignoriert.
Aus der persönlichen Erfahrung der ersten anderthalb Wochen kann ich sagen, dass allein das Bewältigen der Informationsflut über die verschiedenen Kommunikationskanäle wie Telefon, Dienst-E-Mail, Messenger der Schulplattform durch die vielseitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Klassen- und Abteilungsteam eine Überforderung darstellt. Während ich morgens noch das Frühstück für die zu betreuenden Kinder zubereite und mich mit meinem Mann abstimme, wer zu welche Zeiten an diesem Tag „im Home Office“ ist, erhalte ich die ersten Messenger-Nachrichten auf meinem Mobiltelefon, in dem die ersten Anfragen aufploppen. Das sorgt unweigerlich für gefühlten (Zeit-)Druck und das Einsetzen von Stresssymptomen, während man ohnehin das Gefühl hat, weniger dienstliche Aufgaben zu erledigen als die Kolleg*innen, die sich munter und aktiv in dienstlichen Foren über ihren Arbeitsfortschritt und ihr Arbeitspensum austauschen. Und dessen nicht genug, höre ich von einzelnen Kolleginnen, dass sie neben der Erstellung digitaler Unterrichtsangebote noch an Qualitätsmanagement-Konferenzen teilnehmen (müssen?).
Die Kolleg*innen an allen Hamburger Schulen, die derzeit im Home Office Unterrichtsangebote erarbeiten und den Schüler*innen zur Verfügung stellen und parallel dazu ihre Kinder betreuen, leisten derzeit die Arbeit zweier pädagogischer Berufe: Sie sind Lehrer*innen und Erzieher*innen zugleich. Neben den gegenwärtig zu bewältigenden Aufgaben wie sich mit Team-, Klassen-, Abteilungskolleg*innen via E-Mail, Telefon, Messenger zu koordinieren, digitales Lernmaterial für die Schüler*innen umzuarbeiten und zu erstellen, das erstellte Material über verschiedene Wege (E-Mail, Schulplattform, Post,…) den Schüler*innen zur Verfügung zu stellen, nach Wohnanschriften, E-Mail-Adressen, Telefon- und Mobilnummern von Schüler*innen, Ausbildungs- und Praktikumsbetrieben zu recherchieren, um Kontakt aufnehmen zu können. Denn insbesondere im Bildungsgang Ausbildungsvorbereitung Dual für Migrant*innen zeigt sich in dieser Zeit deutlich, dass die Ausgangsbedingungen in der digitalen Ausstattung nicht bei jedem Schüler und jeder Schülerin so gegeben sind, wie Herr Rabe sich das vorstellt bzw. voraussetzt. Hier überfällt mich mindestens einmal täglich das Gefühl großer Frustration, weil ich meine AVM-Schüler*innen nicht so intensiv (digital) betreuen und begleiten kann, wie es gerade diese Jugendlichen brauchen und sich auch wünschen. Parallel dazu geben die Kolleg*innen im Schuldienst in diesen Tagen ihren Kindern Anregungen für Beschäftigungen zum Bewegen, Spielen, Lernen, kreativem Arbeiten, stehen bei Problemen der Kinder als Ansprechpersonen zur Verfügung, bereiten Speisen für Haupt- und Zwischenmahlzeiten zu, übernehmen und begleiten bei ihren Kindern Aufgaben der Körperpflege, schaffen Raum und Zeit für Ruhe- und Schlafzeiten von Kleinkindern, erklären ihnen, dass „das Virus“ noch nicht weg ist und sie noch nicht wieder in die Kita zu ihren Freunden und Freundinnen können. Und nicht zu vergessen, die gleichzeitige Begleitung der eigenen Kinder, die bereits selbst zur Schule gehen und im selbstverantworteten Lernen von ihren Eltern begleitet werden müssen. Und das permanent mit dem Gefühl: Eigentlich müsste ich etwas für „die Schule“ tun.
In der von der Schulbehörde gestellten Anforderung, neben der Kinderbetreuung zu Hause noch im Home Office als Lehrkraft zu arbeiten, sehe ich eine doppelte Abwertung zweier pädagogischer Berufe – Lehrerin und Erzieherin -, die gesamtgesellschaftlich immer noch um Anerkennung (in Besoldung usw.) und Wertschätzung kämpfen. Beides könne man – anscheinend - zusammen mal eben so mitmachen: pädagogisch wertvoll die eigenen Kinder und Schüler*innen betreuen. Ist das leistbar? Ich denke nicht. Schließlich lese ich in Nachrichten von befreundeten Kolleginnen aktuell Sätze wie „Die letzte Woche war bei mir Ausnahmezustand“ oder „Ich gehe ehrlicherweise gerade ein wenig unter mit den Kindern plus Unterricht und Korrektur“. In dem verzweifelten Versuch, sich selbst zu beruhigen, fügen die meisten Eltern, mit denen ich derzeit digital Kontakt habe, dann an: „Was mich tröstet, ist, dass es den meisten Eltern derzeit so geht.“ Soll das der Seelenbalsam, das Wundpflaster sein, welche die Belastungsfaktoren dieser für uns alle außergewöhnlichen und noch nie dagewesenen Arbeits- und Lebenssituation abwehren und heilen?
Hier wünsche ich mir tagtäglich, nicht dass es heißt „Frag den Rabe“, sondern „Der Rabe fragt nach“: Geht das überhaupt? Home Office als Lehrer*in und Kinder-/Angehörigenbetreuung zugleich? Was braucht ihr Lehrende, damit es euch dabei leichter fällt und es euch besser geht? Digitales Unterrichten aus dem Home Office und Kinderbetreuung zugleich auf 96 qm – eine gewagte Konstruktion! „Social Distancing – Aus Solidarität auf Distanz” betitelte Zeit Online einen Beitrag in diesen Tagen. Aber bitte nicht in der Form, dass die Schulbehörde ihre Beschäftigten vergisst! In seinem Buch „Die Stille Revolution“ bringt es Bodo Janssen scharfsinnig auf den Punkt: „Führung ist Dienstleistung und kein Privileg.“ Das gilt in diesen uns alle sehr herausfordernden Zeiten noch viel mehr. Und da freue ich mich umso mehr, dass mich in den letzten Tagen eine sehr wertschätzende und anerkennende Dank-E-Mail meiner Schulleitung erreichte!
Susanne Jacobs (für den AfGG)
Foto: Fredrik Dehnerdt