Kreidezeit trifft Moderne

27. September 2012Von: Michael KratzThema: Bildungspolitik
Einladung zu einer Debatte

„Modern“ und „modern“ sind zweierlei – Bedeutungs-Welten liegen zwischen Verb und Adjektiv.

Sie modern im Kreidestaub vor sich hin, diese altmodischen LehrerInnen. Ausgestattet mit Montblanc-Füller und uraltenMerkhilfen wie „Bücher“ oder „Notizen“ für ihre monotonen Vorträge im öden Frontalunterricht, die sie nur gelegentlich für saugend-schraubende Fragerunden unterbrechen. Ihr Medium der Wahl heißt Tafel. Ihre Speerspitzen des Fortschritts sind Sprachlabor, Video-Kassette sowie – gewagt, gewagt - Partner- oder Gruppenarbeit im Gleichtakt. Noten oder „Plusse/ Minusse“ werden mit erwähntem Montblanc (zur Not tut’s auch der Werbe-Kuli) ins Klassenbuch notiert. – Einige SchülerInnen spielen derweil unter der Bank mit dem Handy.

Moderne KollegInnen verstehen sich als ModeratorInnen. Sie checken in der Pause kurz das Netbook voller „PeDeEff- Dateien“ mit Arbeitsblättern und UEs, kostenlos aus dem Netz. Dann klemmen sie sich einen Stapel laminierter Aktivierungs-, Frage-, Info- und Evaluierungskärtchen unter den Arm und ab geht’s an die Lernstationen! Die SchülerInnen sind hochaktiv und selbst gesteuert; Zeitwächter und Materialholer walten ihres Amtes. Präsentiert wird am interaktiven Whiteboard. Powerpoint, Filmclips und Bildmaterial lagern handlich auf dem Stick, Kompetenzraster dokumentieren den aktuellen Leistungsstand. – Einige SchülerInnen spielen derweil unter der Bank mit dem Handy.

Soweit das Klischee, das - wie viele Plattitüden – ein wenig Wahrheit enthält. Modernisierungsbefürworter und -gegner liefern sich erbitterte, gern in knackigem Schwarz-Weiß gehaltene Debatten. Als gegensätzliche  Paare treten auf:

  • Äußere Differenzierung in Schultypen oder Kursniveaus versus innerer Differenzie-rung inklusive Inklusion
  • Gleichgetakteter Frontalunterricht versus selbst gesteuertem Unterricht
  • Kanonisiertes Wissen (Lehrplan, Fachsystematik) versus Kompetenzorientierung; mit einher geht die vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich umstrittene Zusammenführung von Einzeldisziplinen (Biologie, Chemie, Physik) zu einem Fach (NW). Eine mir bekannte Didaktikprofessorin formulierte sinngemäß: Der
  • fachliche Gegenstand des Unterrichts ist gleich gültig [man beachte die getrennte Schreibweise! MK], solange der Erwerb von Kompetenzen im Vordergrund steht.
  • „Analoge“ Werkzeuge (Hefte, Tafel, Briefe) stehen „digitalen“ Medien (Netbook, interaktives Whiteboard, Commsy, E-Mail) gegenüber.

Für Befürworter wie Gegner gibt es jeweils triftige Argumente: Ist nicht längst bewiesen, dass monotoner Frontalunterricht nur eine winzige Minderheit der Schülerschaft erreicht? EMails, Commsy und interaktive Whiteboards erleichtern doch hocheffektiv den Alltag, oder? Aus Textbausteinen zusammengeschusterte  Hausarbeiten und oberlächlichen Medienkonsum moniert die Gegenfraktion. Befürworter, Gegner – schon wieder ein Klischee. Denn die meisten mir bekannten KollegInnen vermischen Klassik und Moderne. Das gilt  auch für mich: Die Ideensammlung für diesen Artikel beispielsweise entstand auf einem Smartphone (digital) während eines Spaziergangs (pedal). Vielleicht rührt das Unbehagen der Modernisierungsgegner daher, dass „Reformen“ und „Fortschritt“ in den letzten Jahren oft einen geradezu in gegenteilige Richtung   zeigenden Bedeutungswandel erfahren haben: Als Hoffnungsträger für bessere Verhältnisse haben sie in  der Regel ausgedient, die beiden Begriffe signalisieren zu oft Sparmaßnahmen und Arbeitsverdichtung.

Das System Schule selbst verstärkt den Widerspruch: Einerseits werden ofiziell Kompetenzorientierung, Profiloberstufen und individualisierter Unterricht verlangt, andererseits findet ebenso ofiziell der krönende Abschluss in zentralen Hauptschul-, Realschul- und  Abiturprüfungen statt.

Neue Medien,neue Methoden?

Moderne Methoden und elektronische (digitale) Medien in einem gemeinsamen, wenn auch zweigeteilten Schwerpunkt – was hat das miteinander zu tun?

Der Zusammenhang ergibt sich aus der Frage, inwieweit digitale Medien moderne Unterrichtsmethoden
fördern oder verhindern. Es ist plausibel, dass mit Netbooks ausgestattete SchülerInnen individuelles Arbeiten ermöglichen. Interaktive Whiteboards hingegen verführen unter Umständen zu einer Renaissance
des Frontalunterrichts. Andererseits eignen sie sich als universelle Text-, Bild- und Soundmaschinen als Werkzeug für von SchülerInnen erstellten Präsentationen. Die Wiedergabe einzelne Bilder und kurzer Filmsequenzen ist damit wesentlich bequemer geworden. Man vergleiche den Aufwand, die auf einem  USB-Stick gespeicherten Bild- und Tondokumente wiederzugeben mit dem durch mehrere Flure geschobenen klassischen Medienwagen: „Damals" zeigte man gleich den kompletten Film anstelle auserwählter Sequenzen, denn sonst hätte sich ja der Aufwand nicht gelohnt!

Auch die modernen Methoden treten ambivalent in Erscheinung: Kompetenzraster und Portfolio ermöglichen selbst gesteuerte Schülerarbeit, mutieren jedoch in der Hand zwanghafter Kontrolleure unter Umständen zu Steuerin-strumenten mit Dauerkontrolle. Der Erziehungswissenschaftler Thomas Häcker bezeichnet die Portfolio- Methode pointiert als ideales neoliberales Steuerinstrument [http://mp.uni-flensburg.de/studiblog/lea/files/2011/11/H%C3%A4cker_2010_....

„Digitale Demenz“

Das Schlagwort von der „Digitalen Demenz“ macht die Runde. Manfred Spitzers gleichnamiges Buch ist  zurzeit ein Bestseller. Multitasking und Reizüberlutung durch suchtartige Nutzung sozialer Netzwerke, häppchenweiser Konsum (zu) zahlreicher Informationsquellen (RSSFeeds, Blogs, Twitter, Facebook,
digitalisierte Bücher) führen zu schlechterer Gedächtnisleistung und Oberlächlichkeit. Klingt plausibel - wer von uns hat sich nicht schon über Hausarbeiten geärgert, die in erster Linie durch eifriges Betätigen der Tastenkombination Strg+C entstanden? Dem von Manfred Spitzer recht absolut vertretenen Ansatz halte ich entgegen, dass sich ein Standbild auf dem Whiteboard und eine Seite im E-Book in ihren physiologischen Auswirkungen wohl nicht dramatisch vom klassischen Tafelbild und der Seite im gedruckten Buch  unterscheiden.Zu unterscheiden ist, ob man, als Negativbeispiel, in einer Stillarbeitsphase auf dem interaktiven Whiteboard eine musikbegleitete Diashow zur „Untermalung“ im Hintergrund laufen lässt oder, in den Auswirkungen m. E. harmlos, im Rahmen eines Unterrichtsgespräches gezielt ein, zwei Bilder oder einen
Videoclip präsent.

Frau Freitag ist auch am Sonntag bereit!

Die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen noch mehr, als es in unserem Beruf dank Dauerjagd auf interessante Unterrichtsgegenstände sowieso schon immer der Fall war. Frau Freitag jedenfalls kommuniziert auch am Wochenende feierabends mit ihren Schülerinnen und Schülern per Facebook. So steht es jedenfalls in der erfolgreichen Episodensammlungen „Chill mal, Frau Freitag“ und „Voll streng, Frau Freitag!“

Moderne Medien erleichtern  die Arbeit! Moderne Medien führen zu Mehrarbeit und Arbeitsverdichtung!  Beides trifft zu. Mit E-Mail und commsy erledigt sich vieles – nicht alles – schneller und komfortabler als
per Papier und Telefon. Doch weil E-Mails schneller geschrieben und verschickt bzw. verteilt sind als klassische Papiere, werden sie um ein Mehrfaches öfter eingesetzt. Zusätzlich führt die vor allem durch Smartphones ermöglichte ständige Erreichbarkeit zu „Allzeit bereit!“ – man könnte ja etwas versäumen.

Hardware ist manchmal richtig hart

„Wenn du im Raum Eins-Fünf-Null-Acht das Whiteboard nutzen willst, musst du vor dem Einschalten des Computers das USB-Kabel vorne rausziehen und erst nach dem Hochfahren wieder einstecken, sonst startet der PC nicht. Und ich glaube, das Board muss mal wieder kalibriert werden.“ Verstanden? Rasch schlägt der Puls, wenn bei solchen Problemen im Rücken die Klasse tobt, hoch der Adrenalinspiegel, wenn selbst ernannte Experten aus der Schülerschar „Hilfe“ anbieten. Kreidezeit trifft nicht nur Moderne, sondern auch (technisches) Mittelalter. Anstelle eines im Whiteboard integrierten PC-Moduls ist man mit einem  klotzigen Desktop-Computer konfrontiert,  aus dessen Rückwand Kabelsalat quillt.

Nicht immer ist es von Vorteil, zu den Pionieren zu gehören. Das gilt auch für Schulen, sofern es die  technische Ausstattung betrifft. Erinnert ihr euch noch an die teueren Displays, die man auf den OHP legen konnte? Wohl der Schule, die die Finger davon ließ: Völlig veraltet, die Dinger. Es gilt aber auch für interaktive
Whiteboards der ersten Generation mit ihrer lauen und farbstichigen Bildqualität.

Schneller Generationswechsel bei den Geräten erzeugt Begehrlichkeiten für Neuanschaffungen. Die moderne Technik von heute ist der Elektronikschrott von morgen. Der Müllberg wächst durch ausgediente Geräte und „nachfüllbare“ (aber im Alltag dann doch nicht nachgefüllte) Stifte für die weißen Wandtafeln.

Ein weiterer Aspekt ist der „Stromverbrauch“, der manche Fifty-ifty-Erfolge zunichtemachen dürfte: Lohnt es sich eigentlich, PC und Whiteboard in der Pause herunterzufahren? Werden die Beamer mit  leistungshungrigen Halogenlampen oder sparsameren LEDs betrieben? Ständig besteht Beratungs- und
Reparaturbedarf. Nein, es ist nicht der fest angestellte Medienassistent, der diese Aufgaben übernimmt, sondern stets zu knapp mit F-Stunden ausgestattete KollegInnen, die mit Bergen unbezahlter Überstunden
zu Diensten sind: „Kannste mal…?“

Mehr Zeit, mehr Personal, mehr Fortbildung

„Treibhäuser der Zukunft“: In Reinhard Kahls legendärem Schulilm (2004) kooperiert entspannt das  Lehrpersonal, während die Kinder ebenso entspannt ihren Aufgaben nachgehen. Doch mal ehrlich:
Entstehen eure Unterrichtsvorbereitungen tatsächlich auf den Fachkonferenzen? In meinen Teamsitzungen ist jedenfalls Krisenintervention das beherrschende Thema. Und differenziertes Arbeitsmaterial aus den
Verlagen, das man wirklich 1:1 im persönlichen Unterricht nutzen kann, gibt es kaum. Fazit: Die Vorbereitung auf den Unterricht folgt, ganz individuell, am Feierabend.

  • Erheblicher Bedarf besteht: an zusätzlichem Personal und an viel mehr Zeit – sowohl für die moderne Technik als auch die neuen Methoden.
  • Sollen Individualisierung und Inklusion gelingen, ist Doppelbesetzung unumgänglich.
  • Fortbildung tut not! Passend dazu wird im LI eifrig gespart.
  • Wartung und Beratung sollten fest eingestellte Medienassistenten übernehmen; zumindest aber müssen die für diese Aufgabe betrauten KollegInnen mehr Zeit bekommen.
  • Individualisiertes Arbeitsmaterial entsteht nicht nebenbei und auch nicht auf den zeitlich eng begrenzten Fachkonferenzen. Deshalb brauchen wir alle mehr Zeit, auch wenn sie nicht im LAZM enthalten ist.

Eine Lizenz zum Gelddrucken

Interessant ist auch der ökonomische Aspekt. Das Smartboard ist ein Produkt der Firma Smart Technologics. Zumindest in großen Teilen der Hamburger Schullandschaft ist Smartboard zu einem Gattungsbegriff für interaktive Whiteboards geworden.

Das Selbstverständnis der modernen LehrerIn spiegelt sich in den Begriffen „Moderator“ oder „Coach“. Doch „technische AssistentIn für gewinnträchtige Neuanschaffungen“ trifft es oft ebenso gut.

1984 reloaded?

(Nicht nur) auf Personalräte warten zusätzliche Aufgaben: digitale Vertretungspläne,  Verwaltungs-programme (z. B. Untis) müssen gründlich hinsichtlich der Datenschutzrichtlinien abgeklopft werden. Deren Einhaltung natürlich stets versprochen werden.

Die Lehrerinnen und Lehrer sind’s!

Zum Schluss das Beste. Wie bedeutsam sind Methoden und Medien im Vergleich zu anderen Rahmenbedingungen, im Vergleich zur Lehrpersönlichkeit? Der Erziehungswissenschaftler John Hattie von der Universität Melbourne unterscheidet in seinen Studien zwischen vernachlässigbaren, kleinen, moderaten und großen Effekten auf Lernleistung und Lernerfolg. John Hatties Forschungsergebnisse  bestätigen das, was viele schon immer geahnt oder zumindest gehofft haben: Persönlichkeit schlägt Methoden und Organisationsformen.

Einladung zur Diskussion

„Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.“, führt der Göttinger Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke aus [zitiert in ZEIT ONLINE vom 03.11.2011:„Doch, er ist wichtig!].

Wir laden Leserinnen und Leser zu einer hoffentlich spannenden und bestimmt kontroversen Diskussion ein. Schreibt und mailt. Twittern? Haben wir noch nicht.

MICHAEL KRATZ
STS MÜMMELMANNSBERG