Individualisierter und kompetenzorientierter Unterricht: Bedingungen für guten Unterricht

18. April 2013Von: Sigrid StraußThema: Bildungspolitik
Stellungnahme auf der Sachverständigenanhörung des Schulausschusses am 16.04.2013

Ich bin Berufsschullehrerin bei den Raumausstattern in der Gewerbeschule 6 für Farbe, Holz und Gestaltung sowie stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Hamburg. Ich möchte zu dem Thema „Individualisierter Unterricht“ von meinen Erfahrungen in einer Werkstatt offener Unterricht in Hamburg Anfang der 1990-er Jahre berichten, etwas zur Lernfeldarbeit an Berufsschulen und zu einigen Aussagen in der wissenschaftlichen Debatte Stellung nehmen. In den Berufsschulen standen wir damals vor allem vor drei Problemen.

  1. Zum einen wurde die Schülerschaft immer heterogener. In meinen Klassen war es in den 80-er Jahren so, dass es mehrheitlich männliche Auszubildende gab mit Hauptschulabschlüssen, auch mit Realschulabschlüssen und wenige mit Abitur, auch Schüler ohne Abschluss. Das änderte sich zu Beginn der 90-er Jahre. Es kamen mehr weibliche Auszubildende, heute sind es über 50%, es kamen mehr Abiturienten, die Heterogenität stieg. Wir haben die Entscheidung in meiner Schule getroffen, die Klassen nicht nach Abschlüssen aufzuteilen. Der Grund war: In den Betrieben arbeiten auch alle zusammen, die Schüler müssen deshalb lernen, miteinander zu arbeiten. Wir haben zwar zuvor Versuche mit homogenen Klassen gemacht, dann aber festgestellt, dass die Lernleistungen bei allen, auch bei den Abiturientenklassen, niedriger waren.  Es galt also durch Binnendifferenzierung einen erfolgreichen Unterricht zu arrangieren. Deshalb hat das individualisierte Lernen in den Berufsschulen seine Bedeutung bekommen.
  2. Zum zweiten wuchs die Unzufriedenheit mit dem traditionellen Frontalunterricht. Wir hatten im Referendariat gelernt, den Unterricht etwas über dem Durchschnitt anzusetzen. Das führt dann aber leicht dazu, dass die über dem Durchschnitt sich langweilen und die unter dem Durchschnitt gar nicht mehr mitmachen. Prof Helmke von der Uni Konstanz nennt dies „Monokultur des Einheitsunterrichts“, der durch die 7 G’s gekennzeichnet: „Der gleiche Lehrer unterrichtet alle gleichaltrigen Schüler im gleichen Tempo mit dem gleichen Material im gleichen Raum mit den gleichen Methoden und dem gleichen Ziel.“ (Zeit vom 18.12.2011) Diese Orientierung am „Durchschnittschüler“ oder „Einheitsschüler“ hat auch mit dem gegliederten Schulwesen zu tun.
  3. Zum dritten wurde von der Wirtschaft gefordert, die Auszubildenden sollten auch Schlüsselqualifikationen erwerben. Dies ist heute Allgemeingut. In § 2 Satz 2 des Hamburgischen Schulgesetzes heißt es:  Unterricht und Erziehung „sind so zu gestalten, dass sie die Selbständigkeit, Urteilsfähigkeit, Kooperations-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sowie die Fähigkeit, verantwortlich Entscheidungen zu treffen, stärken.“ Damals wurden nach den Forderungen aus der Wirtschaft, in der Wissenschaft, vor allem der Berufspädagogik, Diskussionen geführt, was Schlüsselqualifikationen seien. Aber es kam aus der Wissenschaft keine Hilfe, wie diese zu vermitteln seien. Klar war nur, dass man Schlüsselqualifikationen nicht im Frontalunterricht erwerben kann.

Deshalb haben wir uns, das waren gleichgesinnte Hamburger Lehrerinnen und Lehrer, zur „Werkstatt offener Unterricht in der Berufsbildung“ zusammengefunden. Wir haben 5 Jahre in einer Werkstatt miteinander gearbeitet, dies machten wir genau in der Form, die später für die Schüler vorgesehen war. Wir haben uns regelmäßig zu Werkstattsitzungen getroffen, haben uns gegenseitig hospitiert, Reformschulen besucht und uns selbst fortgebildet. Für mich war insbesondere zweierlei wichtig:

  • In der Grundschule Wegenkamp in Hamburg, in der wir unsere ersten Schritte machten, wurde offener Unterricht praktiziert nach Freinet, einem französischen Pädagogen. In dieser Grundschule gab es keinen Stundenplan, die Schülerinnen und Schüler arbeiteten allein oder in Gruppen an unterschiedlichen Aufgaben, die sie eigenständig in einem Wochenplan zuvor festgelegt hatten. Der eine konnte rechnen, die andern eine Geschichte schreiben, wieder andere sich etwas vorlesen und noch andere über die Wüstenspringmaus in der Klasse forschen. Die Vorteile: es machte Spaß, man konnte auch aus Fehlern lernen, Umwege waren erlaubt, die Kinder machten von sich aus sehr viel, lernten selbständig zu arbeiten und ihre Arbeit zu planen. So oder ähnlich haben viele Hamburger Grundschullehrer ihren Unterricht entwickelt. Diese Ansätze wurden aus der Wissenschaft, wie beispielsweise von Prof. Wallrabenstein von der Uni Hamburg aufgegriffen.
    Die Grundschulpädagogen standen nämlich vor der Frage, wie sie ihre Schüler, die mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen an den Start gehen, unterrichten sollen.  Mit dem herkömmlichen Frontalunterricht waren sie nicht (mehr) zu erreichen.  Die Unterschiedlichkeit ist insbesondere in Großstädten ausgeprägt.
  • Sehr wichtig war für mich auch die Ausbildung in Themenzentrierter Interaktion nach Ruth Cohn. Die Lernenden sollten nicht den toten Unterrichtsstoff aufnehmen und reproduzieren müssen, sondern sie wollte eine lebendiges Lernen, indem eine Balance geschaffen wird zwischen dem Ich, dem Individuum, dem Wir, der Gruppe  und dem Es, dem Thema. (Von Ruth Cohn stammen Regeln wie: „Sprich per Ich und nicht per Du.“ Diese als Ich-Appell genannte Regel ist für Rückmeldungen, die im individualisierten Lernen eine große Rolle spielen, von großer Wichtigkeit. Eine andere Regel ist: Sei Dein eigener Vorgesetzter. Auch dies im individualisiertem Lernen sehr wichtig.)

 

Als ein Ergebnis der Werkstatt offener Unterricht habe ich diese Lernform in einer Art Schulversuch in Berufsschulkassen der Raumausstatter mit gleichgesinnten Kolleginnen. umgesetzt. Ich habe fächerübergreifenden, offenen Unterricht eingeführt. Die Schüler haben in Gruppen oder allein zu Themen ihrer Wahl gearbeitet nach einem neu entwickelten Lehrplan. Es gab für jeden Schüler einen Wochenplan, es gab keine festgelegten Pausen mehr. Es wurde praktisch und theoretisch - meistens zur gleichen Zeit - gearbeitet. Alle Schüler waren auf ihre Weise und in ihrer Geschwindigkeit beteiligt, lernten voneinander und waren hoch motiviert. Die häufig genannte Vermutung, dass schwächere Schüler mit dieser Lernform benachteiligt seien oder scheitern würden, kann ich nicht teilen. Schüler werden in diesem Unterricht nicht allein gelassen. Vielmehr werden sie von der Lehrkraft begleitet, sie lernen das lernen. Sie werden aber auch von ihren Mitschülern begleitet und geben sich und der Lehrkraft Rückmeldungen. Diesen Unterricht für alle zu leiten ist Aufgabe der Lehrkraft-wie es gemacht wird, muss von ihr gelernt werden. Alle Schülerinnen haben jedenfalls ihre Prüfungen bestanden und waren begeistert von dieser Lernart.

Aufgrund dieser und ähnlicher Konzepte, die z.B. aus dem Projektunterricht entstanden sind, wurden später auf Bundesebene für die einzelnen Berufe die Rahmenlehrpläne verändert. Die KMK hat darin die Lernfeldarbeit als Prinzip festgelegt. Lernfelder sind zum Beispiel (Montieren von Sicht- und Sonnenschutz oder) das Verlegen textiler Bodenbeläge. Die Einteilung in Schulfächer ist dabei weitgehend aufgehoben. Es geht dabei um handlungsorientierte Lernen, was nicht mit Hantieren verwechselt werden darf, sondern um vollständige Handlung von der Planung bis zur Bewertung. Ausgangspunkt sind zumeist Kundenaufträge, die an der jeweiligen Berufspraxis orientiert sind. Kompetenzorientierung wird in meiner Schule und in anderen Schulen nach und nach eingeführt. Dabei geht es im Wesentlichen um Rückmeldungen. Das ist für alle gut, auch weil es mehr ist als Klassenarbeiten und Benotungen. Die Lernfeldarbeit ist methodisch in der Fläche das Beste, was ich an Berufsschulen erlebt habe.

Die Bedingungen, unter denen dies Lernen stattfinden sollte, sind nach meiner Ansicht Folgende: gut ausgebildete Lehrerinnen, eine angemessene Gruppengröße, bis 22 SchülerInnen, phasenweise Doppelbesetzungen, eine gute Vorplanung des Unterrichts, vorhandenes Lernmaterial, Klassenräume, die groß genug sind, um verschiedene Aktivitäten gleichzeitig zuzulassen. Eine Möblierung, die unterschiedliches Lernen zulässt. Eine lernförderliche und lernanregende Umgebung, z.B. helle Räume, schalldämmende Materialien, Pflanzen….Die SchülerInnen sollten zu jeder Zeit wertschätzend behandelt werden, mit ihren Ideen, Problemen, Fragen offene Ohren finden. LehrerInnen, die Zeit für ihre Schüler haben, also nicht gestresst durch die Schule jagen müssen und mit allem möglichen Außerunterrichtlichem beschäftigt werden, die Zeit haben zu kooperieren, gemeinsam Probleme zu lösen, sich fortzubilden, die gut behandelt und wertgeschätzt werden.

Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass – zumindest in Hamburg – mit dem individualisierten Lernen in Grundschulen begonnen wurde und dann in Berufsschulen fortgesetzt wurde. Erst danach kam die Wissenschaft.

Die Frage nach dem „guten“ Unterricht ist nicht allein eine Frage wissenschaftlicher Evaluation. Evaluation heißt „Bewerten“. In einer Evaluation vergleicht man das, was ist, mit dem, was sein soll. Was als gut bewertet wird, ist zum einen eine Wertfrage. Das kann die Wissenschaft allein nicht entscheiden. Das ist eine gesellschaftliche und politische Frage. Im Schulgesetz sind diese Ziele festgelegt. Im § 3 des Hamburgischen Schulgesetzes heißt es:

„Das Schulwesen ist so zu gestalten, dass die gemeinsame Erziehung und das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen in größtmöglichem Ausmaß verwirklicht werden können. Diesem Grundsatz entsprechend sollen Formen äußerer und innerer Differenzierung der besseren Förderung der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers dienen. 3 Eine Lernkultur mit stärkerer und dokumentierter Individualisierung bestimmt das schulische Lernen.“

Damit komme ich zu der Frage, was die Wissenschaft denn heute zu „gutem“ Unterricht sagt. In aller Munde ist aktuell die Hattie-Studie. Dazu hat es auch Diskussionen in der GEW gegeben. Bei Hattie wird „guter“ Unterricht an den Schülerleistungen gemessen. Das ist ein Kriterium für „guten“ Unterricht. Nun wird gesagt, laut Hattie würde individualisiertes Lernen nichts bringen. Richtig ist, dass Offener Unterricht und jahrgangsübergreifender Unterricht nach Hattie einen „sehr gering positiven“ Einfluss auf die Schülerleistungen hat. Zumindest schadet es nicht. Aber: Einen „gering positiven“ Einfluss haben die Klassengröße und individualisiertes Lernen; einen „deutlich positiven“ Einfluss haben kooperatives Lernen und das Lernen in Kleingruppen und einen sehr positiven Einfluss problemlösender Unterricht und Rückmeldungen (Feedbacks). Letztere sind alles Faktoren, die ich zum individualisierten Lernen dazurechnen würde. Ganz wichtig ist nach Hattie, dass die Lehrkraft und das, was sie tut, sichtbar sein muss. Das widerspricht aber überhaupt nicht dem individualisierten Lernen. Es entspricht genau dem, was wir als GEW sagen: dass es auf die Lehrkraft ankommt und dass man diese gut behandeln muss.

Lassen  sie mich noch zwei Faktoren der Hattie-Studie nennen, die einen deutlich negativen  Einfluss auf die Schülerleistung haben: Das ist zum einen der Schulwechsel, also auch Abschulen, und das ist zum zweiten das Sitzenbleiben. Insofern hat man im Schulgesetz richtig entschieden, als man unter der Parole „Förden statt Wiederholen“ Abschulen und Sitzenbleiben eingeschränkt hat.

Zum Schluss möchte ich noch auf eine Debatte um die Frage der Ausschließlichkeit und Überbetonung individualisierten Lernens eingehen. Wir sehen hier Parallelen zum Arbeitsmarkt, auf dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als Arbeitskraft-Unternehmer und als Ich-AG betrachtet werden, die ganz allein für ihr Schicksal verantwortlich sind. Für uns kommt es als GEW im Sinne von Ruth Cohn nicht nur auf das Ich, sondern auch auf das Wir an. Die Schülerinnen und Schüler sollen auch gemeinsam lernen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können ihre Interessen letztendlich nur gemeinsam und solidarisch vertreten.