Schon das zehnjährige Jubiläum des Bildungsgipfels der vollmundig gepriesenen „Bildungsrepublik Deutschland“ wurde von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Oppositionsparteien im Gegensatz zu den damaligen und heutigen Regierungsparteien CDU/CSU und SPD nicht eben gefeiert. Abgesehen von der erreichten Erhöhung der Studierendenzahlen wurde fast keines der schon damals nicht gerade anspruchsvollen Ziele erreicht: Die Halbierung der Anzahl der SchülerInnen ohne Abschluss auf 4%, die Halbierung der Zahl der Jugendlichen ohne Ausbildungsabschluss auf 8,5%, der Krippenausbau auf 35% und die Erhöhung der Bildungs- und Forschungsaufgaben auf 10% des BIP sind weit verfehlt worden.
Dennoch werden Bundesregierung und Kultusministerkonferenz nicht müde, auch die Vorstellung der neuen OECD - Studie „Bildung auf einen Blick“ (www.oecd.org/berlin/publikationen/bildung-auf-einen-blick.htm) als Bestätigung ihrer Erfolgsbilanz in Sachen Bildung zu nehmen. Was ist dran an dieser Bilanz?
Licht und Schatten fallen auf das Bildungssystem der Bundesrepublik, wenn man die OECD-Studie genauer betrachtet.
Herausstechendes Merkmal im OECD-Überblick von 35 Ländern ist, dass der Trend zu mehr und höherer Bildung international ungebrochen ist. Die Bildungsbeteiligung und die Teilnahme an höheren Bildungsgängen nimmt weltweit zu. Von der Betreuung von 2-Jährigen in Kinderkrippen über die Grundschulen und weiterführenden Schulen bis zur beruflichen Bildung und den Universitäten nimmt die Beteiligung an öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen zu. Das gilt auch für Deutschland.
Allerdings sind abgesehen von der Zeit der allgemeinen Schulpflicht, die in allen OECD-Staaten mindestens zwischen 6 und 14 Jahren besteht, und dem 5. Lebensjahr in vorschulischen Einrichtungen, wo OECD-weit mindestens 95% aller Kinder von Bildungsmaßnahmen erreicht werden, die Unterschiede zwischen den Ländern erheblich: Während in Island, Dänemark und Norwegen mehr als 90% der 2 Jährigen in Bildungseinrichtungen betreut werden, liegt dieser Wert in zahlreichen anderen Staaten bei unter 10%. Deutschland hat hier das selbstgesetzte Ziel von 35% verfehlt, im Westen liegt diese Quote deutlich unter 30%.
Je älter die Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden, desto mehr nimmt die Bildungsbeteiligung ab. Bei den 18 Jährigen gibt es nur noch wenige Länder, die eine Beteiligungsquote von über 90% haben (u.a. Schweden, Finnland, Polen, Slowenien), bei den 20Jährigen sinkt die Bildungsbeteiligung im Durchschnitt der OECD Länder auf 55% - bei erheblichen Unterschieden zwischen den Ländern.
Die Zahl der Studienanfänger und der Abschlüsse an Hochschulen hat seit 2005 in der OECD massiv zugenommen. Obwohl auch in Deutschland der Ausbau der Hochschulen, die Ausweitung der Zahl der Studienanfänger und der Abschlüsse an den Hochschulen in diesem Zeitraum massiv gestiegen ist, konnte der Abstand, der seit langem zum OECD-Durchschnitt besteht, nicht verringert werden. Während der Anteil der 25-34 Jährigen mit Hochschulabschluss von (2005) 22% auf (2016) 31% gesteigert wurde, liegt er gegenüber dem OECD-Durchschnitt noch immer weit zurück (2016: 43%).
Nur Italien hat innerhalb Europas eine noch geringere Abschlussquote als Deutschland.
Die sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) erfreuen sich insbesondere in Deutschland zunehmender Beliebtheit bei den Studienanfängern.
Fast 40% beginnen ein solches Studienfach 2016, weit mehr als im OECD-Vergleich. Darin kommt die relativ starke Bedeutung, die die Industrie in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten z.B. in Europa und den USA spielt und die relativ gute Wirtschaftslage in den letzten 10 Jahren zum Ausdruck. Mehr als die Hälfte der MINT- Studierenden studieren technische oder ingenieurwissenschaftliche Fachrichtungen. Demgegenüber sind Sozialwissenschaften, Pädagogik sowie Sozial- und Gesundheitswesen in Deutschland unterrepräsentiert.
Auffällig ist, dass geschlechtsspezifische Diskriminierung bei der Wahl der Studienfächer, die es im Durchschnitt der OECD-Staaten gibt, in Deutschland besonders ausgeprägt ist, was sich insbesondere in einem sehr geringen Frauenanteil in den MINT-Fächern und einem sehr hohen im pädagogischen Bereich zeigt.
Die laut OECD geradezu explosionsartige Erweiterung der Bildungsbeteiligung im Tertiärbereich in den letzten Jahren ist neben den Anforderungen des Arbeitsmarkts – die Beschäftigungsaussichten für Hochschulabsolventen haben sich trotz steigender Zahlen nicht verschlechtert – auf den höheren Stellenwert zurückzuführen, den Bildung in den Familien der meisten OECD Staaten gewonnen hat. Das ist rationales Verhalten:
„Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Bildung einerseits und persönlichem Einkommen, Beschäftigung, Wohlstand insgesamt und Wohlergehen andererseits, daher kann Bildung gesellschaftliche Ungleichheiten verringern. Allerdings kann Bildung auch Ungleichheiten perpetuieren, da der Bildungsstand oft über Generationen hinweg besteht.“ /89/ „Zwar werden nie alle einen Abschluss im Tertiärbereich erwerben, aber alle sollten zumindest die gleichen Möglichkeiten haben, den von ihnen angestrebten Bildungsstand zu erreichen. Absolventen des Tertiärbereichs haben oft Eltern mit einem hohen Bildungsstand. Aber wer Eltern mit einem niedrigeren Bildungsstand hat, sollte angemessene Unterstützung erhalten, um sein gesamtes Potenzial auszuschöpfen. Eine Ausbildung im Tertiärbereich ermöglicht die Aneignung transversaler Kompetenzen und gibt den Bildungsteilnehmern die entsprechenden Werkzeuge zur Anpassung an sich ändernde Anforderungen des Arbeitsmarkts an die Hand. Diese Vorteile sollten nicht einer privilegierten Minderheit vorbehalten sein./90/
Damit spricht die Studie zwei Themen an, die gerade in Deutschland heiß diskutiert werden:
Zum einen wird von der „Akademikerschwemme“ im deutschen Diskurs seit dem Anstieg der Studierendenzahlen in den letzten Jahren gesprochen, vor allem von konservativen Parteien, Philologenverbänden und Arbeitgebern – ungeachtet der Tatsache, dass nach wie vor die deutschen Studierendenzahlen weit hinter dem OECD-Durchschnitt zurückbleiben. Es wird darauf hingewiesen, dass „nicht alle studieren sollen“, es doch das System der dualen beruflichen Bildung gebe, das für viele der bessere Weg wäre. Selten sind diejenigen, die so argumentieren bereit, ihre Kinder nicht auf Hochschulen zu schicken, vielmehr sollen die anderen den Universitäten fernbleiben. Trotz aller Qualität der dualen Ausbildung in Deutschland bleibt aber die Gleichwertigkeit dieser mit dem Hochschulstudium eine Illusion, was man an geringeren Einkommen, schlechteren Arbeitsbedingungen, geringerer Flexibilität und stärkerer Abhängigkeit vom konkreten Arbeitsplatz und damit höherer Arbeitsplatzunsicherheit ablesen kann.
Zum anderen ist das Hochschulstudium – ganz besonders in Deutschland – nach wie vor eine fast exklusive Veranstaltung für Akademikerkinder. 14% der Erwachsenen zwischen 30 und 44 Jahren, bei denen kein Elternteil einen Hochschulabschluss hat, verfügen in Deutschland über einen Hochschulabschluss. Dieser Wert liegt bei den 45-59 Jährigen nur geringfügig niedriger, nämlich bei 13 %, was ausdrückt, dass die soziale Schieflage beim Hochschulzugang sich nicht verbessert hat. Demgegenüber liegt die Quote der Hochschulabsolventen, bei denen mindestens ein Elternteil Akademiker ist, bei 40%. Die Abb A 4.2. zeigt, dass zwar in fast allen OECD Staaten Akademikerkinder viel häufiger studieren, dass die Nichtakademikerkinder aber aufholen. Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, in denen das nicht der Fall ist.
Nach wie vor entscheidet die soziale Herkunft in Deutschland mehr als anderswo, wer ein Hochschulstudium absolviert.
Die höhere Bildungsbeteiligung in den Staaten der OECD zeigt sich auch bei den Abschlüssen unterhalb der Hochschulen. Während im Jahr 2000 noch 35% der Erwachsenen zwischen 25 und 64 Jahren eine Ausbildung unterhalb des Sekundarbereichs II ( das entspricht in Deutschland Abschlüssen unterhalb der gymnasialen Oberstufe oder der berufsbildenden Schulen) hatte, sind das im Jahr 2016 nur noch 22%. Bei den Jüngeren (24-35 Jahre) sind das im Durchschnitt nur noch 16% in Deutschland 13%. Die besondere Stärke des deutschen berufsbildenden Systems liegt darin, dass fast die Hälfte der 24-35 Jährigen einen berufsbildenden Abschluss hat. Nimmt man die Studierenden hinzu, haben vier von fünf jungen Menschen in Deutschland einen Hochschul- oder berufsbildenden Abschluss.
Die im internationalen Vergleich geringe Quote der jungen Menschen (13%), die mit einem Abschluss unterhalb der SEK II die Schulen verlassen und die hohe Quote der beruflichen Abschlüsse führen in Deutschland dazu, dass Jugendarbeitslosigkeit und die Quote der unter 24 Jährigen, die weder in Ausbildung noch beschäftigt sind (NEED: not in employment, education or training), geringer ist als im OECD Durchschnitt. In Deutschland ist dieser Anteil von überdurchschnittlichen 18% in 2005 auf 10% 2016 zurückgegangen (OECD-Durchschnitt 15%, die Zahl der NEED- Jugendlichen weicht von der Zahl der Jugendarbeitslosigkeit aus verschiedenen Gründen ab. Sie einerseits höher, weil ein Teil der vor allem weiblichen Jugendlichen, die nicht in Ausbildung sind, ihre Bemühungen, einen Arbeitsplatz zu finden, eingestellt haben. Andererseits ist die Quote meist geringer, weil die Jugendarbeitslosigkeit die Arbeitslosenzahl mit den Erwerbspersonen im entsprechenden Alter vergleicht).
Die vergleichsweise gute Situation in Deutschland ist nicht nur auf das System der beruflichen Bildung zurückzuführen, sondern hat auch demografische und konjunkturelle Gründe.
Besorgniserregend ist die Situation für diejenigen Jugendlichen in Deutschland, die noch immer ohne oder mit geringen Schulabschlüssen unter SEK II die Schulen verlassen (13%).
Die Abkoppelung dieser Gruppe scheint auch in konjunkturell und demografisch günstigen Zeiten nicht weiter gestoppt zu werden, wenn man berücksichtigt, dass Deutschland zu den ganz wenigen Ländern gehört, bei denen die Bildungsbeteiligung der 18 Jährigen rückgängig ist. „Während in den meisten Ländern mit verfügbaren Daten die Bildungsbeteiligung der 18-Jährigen seit 2010 gestiegen ist, gab es in einigen Ländern auch einen Rückgang: um 8 Prozentpunkte in Ungarn, 5 Prozentpunkte in Litauen, 4 Prozentpunkte in Deutschland, 3 Prozentpunkte in Lettland und 2 Prozentpunkte in Brasilien.“/310/
Nach wie vor bleiben die Bildungsausgaben als Anteil am BIP in Deutschland deutlich unter dem OECD und dem EU-Durchschnitt. 4,3% des BIP werden in Deutschland für Bildung ausgegeben – der OECD-Durchschnitt liegt bei 5,2 %. Deutschland müsste 30 Mrd. Euro mehr pro Jahr ausgeben, um an diesen Durchschnitt zu kommen. Verglichen mit den skandinavischen Staaten, aber auch Großbritannien, Kanada und den USA, die 6% und mehr für Bildung ausgeben, ist Deutschland weit abgeschlagen. Das betrifft auch die öffentlichen Bildungsausgaben, die in den letzten Jahren auf 9,4% der gesamten öffentlichen Ausgaben gesunken sind, womit sie deutlich niedriger sind als im OECD- Durchschnitt (11,3%).
Auch ein Blick auf die Bildungsinvestitionen zeigt, dass die Wahrnehmung von maroden Schulgebäuden in Deutschland bestätigt wird; Deutschland liegt mit seinem öffentlichen Investitionsanteil an den Bildungsausgaben weit unter dem OECD-Durchschnitt.
Geringe öffentliche Bildungsausgaben gehen einher mit einer Schieflage nach Bildungsbereichen: nach wie vor wird in Deutschland zu wenig in frühkindliche und Grundschulbildung investiert – hier liegt das „reiche“ Deutschland sogar in absoluten Ausgaben pro Kind unter dem Durchschnitt der OECD, in denen Daten aus Ländern wie Südafrika, Mexiko und Indonesien mit enthalten sind.
Die „Bildungsrepublik Deutschland“ ist eher ein PR-Gag als Wirklichkeit. Trotz eines Aufholprozesses in wichtigen Bereichen wie frühkindliche Bildung und Hochschulzugang spielt Deutschland nach wie vor keine Führungsrolle, was öffentliche Bildungsausgaben, Bildungsbeteiligung und vor allem soziale Gerechtigkeit im Bildungswesen angeht.
Klaus Bullan
Abbildungen: OECD - Studie „Bildung auf einen Blick“, www.oecd.org/berlin/publikationen/bildung-auf-einen-blick.htm