Wer nach vorn schaut, sollte auch einmal einen Blick zurück werfen. Bis ins 20. Jahrhundert war nämlich gar nicht ausgemacht, ob Deutsch eine angemessene Sprache ist, um zu lernen. Oder ob, zumindest an höheren Schulen, nicht auf Latein oder Griechisch unterrichtet werden sollte. Wer der Forscherin Gogolin so weit in die Vergangenheit folgt, lernt, dass das Ende der damaligen Debatte immer noch nachwirkt: „Bis heute haben wir es mit einem monolingualen Habitus zu tun.“ Über diesen Habitus, der im Kern bedeutet, dass nur (deutsche) Einsprachigkeit als „normale Bildungsvoraussetzung“ wertgeschätzt wird, hat sich Gogolin 1991 habilitiert.
Mit ihrer Forderung nach einem „multilingualen Habitus“ – einer Schule, die offen für Kinder mit unterschiedlichen Sprachen ist, die Muttersprachen anerkennt und, noch besser, fördert – steht Gogolin allerdings heute weniger alleine da als noch vor 25 Jahren. Dass das Erlernen mehrerer Sprachen Kindern weder schadet noch sie überfordert, darüber ist sich die Wissenschaft weitgehend einig. Auch die Europäische Union (EU) stellt fest: „Jedem Europäer drei Sprachen.“
Nach Jahrzehnten des Beobachtens ist sich die Hamburger Sprachforscherin sicherer als je zuvor: „Mehrsprachigkeit ist eine Ressource beim Lernen“ – auch der deutschen Sprache. „Mehrsprachige müssen früher als einsprachige Kinder Vergleiche zwischen Sprachen anstellen und Kategorien bilden“, erklärt Gogolin. „Sie haben automatisch von klein auf mit Sprachregeln zu tun, die andere erst später kennenlernen. Davon profitieren sie.“ Und zwar am meisten, wenn – was immer noch zu selten geschieht – die Schule den Prozess von Zwei- oder Mehrsprachigkeit professionell begleitet.
Ein mögliches Modell: Lehrkräfte helfen Kindern konkret dabei, den Schritt von der Alltags- in die Bildungssprache parallel in zwei Sprachen zu gehen, indem sie diese sowohl in ihrer Erst- als auch in ihrer Zweitsprache unterrichten. So machen es zum Beispiel Berliner Europaschulen, die auf Deutsch und Polnisch, Deutsch und Türkisch oder Deutsch und Spanisch unterrichten. Schwierig dabei ist allerdings: Nur sehr selten haben alle Schülerinnen und Schüler dieselbe Herkunftssprache.
Viele Sprachkulturen
Mehrsprachigkeit zu berücksichtigen, ist nach Gogolins Auffassung aber auch in Klassen möglich, in denen Kinder aus ganz unterschiedli- chen Sprachkulturen lernen. Vorausgesetzt, Lehrkräfte könnten einschätzen, was es heißt, sich in einer Zweitsprache zu bewegen. Zum Beispiel sollten sie wissen, warum sich ein Begriff wie „Sanduhr“ nicht sofort erschließt, obwohl ein Kind durchaus weiß, was die Wörter „Sand“ und „Uhr“ bedeuten, erläutert Gogolin. Und: Pädagogen sollten sich vorstellen können, wie sehr es verwirren kann, wenn ein Verb wie „zurücklegen“ plötz- lich auseinandergerissen und in Teilen vertauscht daherkommt, etwa wenn es heißt: „Welche Strecke legt der Zug zurück?“
Teamarbeit wichtig
Bereits diese Beispiele zeigen: Sprachbildung ist kein Sonderunterricht. „Mit ein paar Extra-Stunden in der Grundschule ist es nicht getan“, hält die Wissenschaftlerin fest. Deswegen sei auch das gern benutzte Wort „Sprachförderung“ missverständlich. Das Team, das mit ihr 2004 das Programm FörMig* auf den Weg brachte, schwenkte schnell zu dem passenderen Begriff „Durchgängige Sprachbildung“ um. Diese, so sieht es Gogolin, sei „Aufgabe in allen Fächern“. Idealerweise kooperierten die Lehrkräfte und wüssten, welche sprachlichen Themen gerade bei wem im Unterricht behandelt werden. Letzteres ist eine zentrale Erkenntnis des FörMig- Programms: Besonders gut entwickeln sich sprachliche Fähigkeiten, wenn systematisch, kontinuierlich und im Team gearbeitet wird.
Durchgängige Sprachbildung sollte über eine lange Phase der Schulzeit laufen, von der frühkindlichen Bildung bis in die weiterführenden Schulen. Nicht zuletzt sieht Gogolin dies auch als eine Aufgabe der Berufsschule – schließlich lernten erst angehende Kfz-Mechatroniker die Wörter „Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung“ kennen, zahnmedizinische Fachangestellte das Wort „Behandlungsassistenz“. An solchen Begriffen wird deutlich, worin der Unterschied zwischen Alltags- und Bildungssprache liegt, auf den Gogolin so viel Wert legt (s. E&W 10/2013): „Bildungssprache ist die Sprache, die wir benötigen, um Bildung zu erwerben. Zuhause und auf der Straße brauchen wir sie nicht. Das heißt allerdings auch: Dort lernen wir sie nicht.“
Nun sind es zurzeit vor allem geflüchtete Kinder und Jugendliche, die meist gar kein Deutsch können und Schulen wie Lehrkräfte vor große Aufgaben stellen. „Bei diesen Schülerinnen und Schülern ist es besonders wichtig, in allen Fächern darauf einzugehen, dass sie es mit einer doppelten Herausforderung zu tun haben: mit dem Inhalt und mit dem Deutschen“, unterstreicht die Sprachforscherin. Auch die Anerkennung der Herkunftssprache als Ressource sei doppelt wichtig: „In aller Regel sind die älteren Mädchen und Jungen ja tatsächlich bereits in einer Sprache zuhause, darauf lässt sich sehr gut aufbauen.“ Insofern verwundert es Gogolin, dass das 130-Millionen- Euro-Programm „Integration durch Bildung“** des Bundesbildungsministeriums (BMBF) ganz ohne den Begriff „mehrsprachig“ auskommt: „Das ist schade“, findet sie, „hier scheint vergessen worden zu sein, dass ‚Mehrsprachigkeit anerkennen und fördern‘ und ‚Deutsch lernen‘ kein Widerspruch ist.“ Insgesamt lassen sich aber doch einige Fortschritte verzeichnen: Der Begriff „durchgängige Sprachbildung“ ist heute in aller Munde; auch haben immer mehr Bundesländer – unter ihnen Nordrhein- Westfalen, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein – einschlägige Module in die Regelausbildung angehender Lehrkräfte eingebaut. Für Schulen, die sich auf den Weg zu einer besseren Sprachbildung machen wollen, fordert Gogolin: „Was sie brauchen, ist Engagement von innen und Unterstützung von außen.“ Das Land müsse zusätzliche Ressourcen bereitstellen – und Pädagoginnen und Pädagogen sollten sich darauf einlassen, dass „Mehrsprachigkeit normal ist“.
Jeannette Goddar, freie Journalistin
*Das Bund-Länder-Projekt „FörMig“ (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund) begleitete unter Ingrid Gogolins Leitung von 2004 bis 2009 mehr als 400 Kitas und Schulen in zehn Bundesländern. Die Website des FörMig-Kompetenzzentrums ist in aktualisierter Form unter www.diver.uni-hamburg.de/de/diver.html zu finden.
**Unter dem Titel „Flüchtlinge durch Bildung integrieren“ investiert das BMBF in den nächsten Jahren 130 Millionen Euro. Die Maßnahmen im Überblick: www.bmbf.de/de/fluechtlingedurch- bildung-integrieren-1615.html. Hinweis für DaF-Lehrkräfte: Eine Linksammlung zum Thema „Deutsch als Fremdsprache“ finden Sie auf dem Landesbildungsserver Baden-Württemberg: www.schule-bw.de/unterricht/faecher/deutsch/deutschlinks/daf/
Der Artikel erschien in der E&W 01/2016
Foto: Dieter Schütz / www.pixelio.de