Werden Abiturienten durch zentral vorgegebene Matheaufgaben tatsächlich studierfähiger? Die Debatte um die bundesweite Vergleichbarkeit von Abiaufgaben und Notenschnitt geht an den eigentlichen Problemen der gymnasialen Oberstufe vorbei.
15.07.2019 - Karl-Heinz Reith, freier Journalist
Mehr als 75.000 Schülerinnen, Schüler und Eltern aus mehreren Bundesländern protestierten in diesem Jahr online gegen ein vermeintlich zu schwieriges Mathematik-Abitur. Folge: Die Kultusminister streiten erneut über die bundesweite Vergleichbarkeit der Reifeprüfung zwischen den 16 Ländern. Ab 2021, spätestens aber ab 2024, soll es bei Abiaufgaben, die dem zentralen Abitur-Aufgabenpool des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin entnommen werden, keine länderspezifischen „Modifizierungsmöglichkeiten“ mehr geben, beschloss die Ministerrunde Anfang Juni in Berlin. Damit will man einen weiteren Schritt hin zu einer besseren bundesweiten Vergleichbarkeit der Abiturleistungen gehen.
Diese Entscheidung war den Kultusministern in ihrer offiziellen Pressemitteilung nach der Sitzung in Wiesbaden jedoch keine Zeile wert. Öffentlich möchte man das Thema derzeit gar nicht groß diskutiert sehen, für die Kultusministerien kommt die erneute Debatte zu unpassender Zeit. Denn innerhalb der Kultusministerkonferenz (KMK) strebt man derzeit einen Staatsvertrag zur länderübergreifenden Qualitätssicherung und Vergleichbarkeit des Abiturs an. Zum einen will man damit dem von Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbarten neuen Bildungsrat von Bund und Ländern noch vor seiner Gründung ein wichtiges Thema wegnehmen. Bundesvertreter sollen in dem neuen Gremium erst gar nicht die Chance haben, bei einem so wichtigen schulpolitischen Kernthema wie dem Abitur mitzureden.
Zum anderen hoffen die Kultusminister, mit dem Länder-Staatsvertrag der Forderung des Bundesverfassungsgerichtes in seinem Numerus-clausus-Urteil vom Dezember 2017 zu entsprechen, das Abitur bundesweit vergleichbarer zu machen und für mehr Transparenz zu sorgen. Wenn Zehntelnoten entscheidend für die Vergabe eines Medizin-Studienplatzes sind, müssten die Anforderungen beim Abitur auch bundesweit vergleichbar sein.
„Ziel der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs ist doch, Studierfähigkeit zu erreichen. Doch allein ein Zentralabitur sagt noch gar nichts über diese Studierfähigkeit aus.“ (Ilka Hoffmann)
Gleichwohl wird weiterhin kein Bundesland dazu verpflichtet, Abituraufgaben in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen aus dem bundesweiten Aufgabenpool zu entnehmen. Diesen haben die Kultusminister seit 2014 kontinuierlich aufgebaut, seit 2017 wird er von allen Bundesländern genutzt – wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Denn jedes einzelne Land kann weiterhin seinen Klausur-Reigen durch eigene Aufgaben ergänzen. Dabei hat der Schüler in der Regel freie Wahl, für welche Aufgabe er sich entscheidet – es sei denn, sein Bundesland hat sämtliche zur Auswahl stehenden Aufgaben dem Pool entnommen, wie etwa Hamburg in diesem Jahr. Außer der Hansestadt hatten die anderen Bundesländer die dem Pool entnommenen Aufgaben zudem variiert, Fragestellungen umformuliert und Detailfragen gekürzt. Das führte jetzt nach den Mathe-Protesten der Schüler in der KMK hinter verschlossenen Türen zu heftigen Disputen.
Die bei den Schüler-Onlineprotesten als zu schwierig und in der vorgegebenen Zeit als kaum lösbar beanstandeten Matheaufgaben stammten alle aus dem zentralen Pool und kamen vor allem aus dem Bereich der Wahrscheinlichkeitsrechnung/Stochastik. Nach Stichproben und Rücksprache mit den IQB-Experten in Berlin räumte Hamburg als erstes Bundesland ein, dass zwei der vier eingesetzten Matheaufgaben diesmal wohl zu schwierig gewesen seien – und man daher die Ergebnisse besser als ursprünglich vorgesehen bewerten wolle. Auch das Saarland und Bremen lenkten zugunsten der Schülerinnen und Schüler ein. Andere Kultusminister sprachen zwar von „sehr anspruchsvollen Aufgaben“, sahen aber keinen Anlass für Korrekturen. Der erreichte Notenschnitt bewege sich nach erster Durchsicht der Klausuren im Rahmen des Üblichen der vergangenen Jahre.
GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann sieht in der Forderung nach bundesweit einheitlichen Aufgaben und länder-übergreifender Vergleichbarkeit eine „Fetisch-Debatte“. Hoffmann: „Ziel der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs ist doch, Studierfähigkeit zu erreichen. Doch allein ein Zentralabitur sagt noch gar nichts über diese Studierfähigkeit aus.“ Dieses wichtige Thema werde bei der Auseinandersetzung um länderübergreifend vergleichbare Abituraufgaben völlig ausgeblendet. Schüler müssten in der Oberstufe lernen, sich selbst zu organisieren, Lösungskompetenz zu erarbeiten und Neugier auf neue Inhalte zu entwickeln.
Allein schon wegen der unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen in den jeweiligen Schulen kann nach Hoffmanns Worten Gleichwertigkeit beim Abitur nicht allein über zentral gestellte Aufgaben erreicht werden. „Wir müssen sehen, wie ist die Schule materiell ausgestattet? Gibt es genügend Lehrkräfte? Wie hoch war der Unterrichtsausfall? Wie ist das soziale Umfeld der Schule bestellt? Sind die jungen Menschen in einer anregungsreichen Umgebung groß geworden? Gibt es genügend Unterstützung für Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern?“ Diese Fragen blieben bei den Debatten der Kultusminister über die vermeintliche Vergleichbarkeit völlig ausgeblendet.
Empirische Daten fehlen
In der Tat gibt es bislang keine bundesweit empirisch abgesicherten Daten darüber, ob junge Menschen, etwa mit einem Abitur aus Bremen oder aus Nordrhein-Westfalen, häufiger im Studium scheitern als Abiturienten aus Bayern oder Sachsen. Auch bundesweite Erfolgsquoten bei den Studienabschlüssen – aufgeschlüsselt nach dem Herkunftsland der Abiturienten – gibt es nicht. Und es wird noch viele Jahre dauern, bis dazu überhaupt erste Informationen vorliegen. Denn das erst 2009 gestartete Nationale Bildungspanel (NEPS) in Bamberg, das langfristige Bildungsverläufe, etwa Längsschnittdaten zur Kompetenzentwicklung und zu Bildungsprozessen erheben kann, ist noch im Aufbau.
Dabei wird in der Schule seit dem PISA-Schock von 2001 wahrlich genug getestet. Die VERA-Vergleichsarbeiten in der 3. beziehungsweise 4. Jahrgangsstufe sollen zeigen, wie weit die bundesweit für die Grundschulen vereinbarten Bildungsstandards eingehalten werden. Gleiches gilt für die 8. Jahrgangsstufe. Das IQB testet für seinen regelmäßigen Bundesländer-Vergleich rund 50.000 Neuntklässler, mal stehen Mathematik und Naturwissenschaften im Vordergrund der Erhebung, mal Lesen, Textverständnis und Fremdsprachen. Hinzu kommen die internationale PISA-Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), bei der 15-Jährige getestet werden, sowie die regelmäßigen internationalen IGLU- und TIMSS-Studien.
Nur die gymnasiale Oberstufe in Deutschland ist bislang noch „testfrei“. Bei der Festlegung auf Bildungsstandards auch für die letzten Schuljahre vor der Reifeprüfung begründeten die Kultusminister das damit, dass man die Abiturienten in der schwierigen Phase vor der Prüfung nicht noch mit zusätzlichen Tests belasten wolle. Und bei den Debatten um die Bildungsstandards für die Oberstufe in den KMK-Gremien ging es fast ausschließlich um Fachinhalte, nicht aber um die Frage, was denn eigentlich Studierfähigkeit ausmacht.
Vor 230 Jahren, 1789, haben in Preußen wegen angeblich ungenügender Vorkenntnisse der Studenten erstmals examinierte Lehrer den Schülern eine Reifeprüfung abnehmen müssen. Das Abitur hat sich im Laufe der Zeit völlig verändert, früher war es einer Minderheit vorbehalten. In den Großstädten strebt heute nahezu jeder Zweite die Allgemeine Hochschulreife an. Die alten Sprachen, Latein und Griechisch, haben an Bedeutung verloren, lebende Fremdsprachen sind an ihre Stelle getreten. In Fächern wie Biologie, Chemie oder Informatik überflügeln die heutigen Abiturienten frühere Schülergenerationen. Aber eins hat die über 200-jährige Geschichte des deutschen Abiturs gut überlebt: Das sind die Klagen der Älteren, vor allem der Konservativen, über zu wenig Wissen der Jugend.