Jahrzehntelang hatten deutsche Gerichte entschieden, die Arbeitszeit der Lehrkräfte sei „unbestimmbar“. Dies hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Was folgt daraus für die Arbeitszeitpolitik der GEW?
Von Gesa Bruno-Latocha, Referentin im GEW-Arbeitsbereich Tarif- und Beamtenpolitik
In Deutschland wird die Arbeitszeit der Lehrkräfte spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts über Unterrichtsdeputate, Pflichtstundenerlasse oder Regelstundenmaße geregelt. Soweit Quellen vorliegen, hat sich die Unterrichtsverpflichtung seither nur unwesentlich verändert. So wurde beispielsweise 1908 in Hamburg, als die Arbeitszeit der anderen Beamtinnen und Beamten von 72 auf 60 Stunden pro Woche gesenkt wurde, die „maximale Wochenstundenzahl“ an Volksschulen auf 30, an den höheren Staatsschulen auf 20 bis 24 Stunden begrenzt.
Heute liegt die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit laut Hans-Böckler-Stiftung bei 37,7 Stunden. Die Lehrkräfte unterrichten hingegen noch fast genauso viel wie vor über 100 Jahren. Warum gingen die gewerkschaftlichen Erfolge bei der Arbeitszeit weitgehend an den Lehrerinnen und Lehrern vorbei?
Die Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte wird seit jeher vom Dienstherrn verordnet. Die Verordnung gilt auch für die (wenigen) angestellten Lehrkräfte. Diese Praxis wurde 1961 auch tarifvertraglich festgeschrieben und gilt bis heute. Beamtinnen und Beamten wird das Recht abgesprochen, über Verhandlungen und Streiks bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. Sie werden stattdessen auf die Gerichte verwiesen. Versuche, dort gegen zu hohe Unterrichtsdeputate vorzugehen, waren allerdings meist erfolglos.
Wer länger arbeitet, ist selber schuld!
1971 urteilte das Bundesverwaltungsgericht, der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz verbiete es nicht, die Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte abweichend von der allgemeinen Arbeitszeitregelung für Beamtinnen und Beamte festzusetzen. 1989 gestand das Gericht zwar zu, dass die Arbeitszeit der Lehrkräfte in die Beamten-Arbeitszeit „eingebettet“ sei. Aber es blieb dabei, die Arbeitszeit der Lehrkräfte sei „nur hinsichtlich der eigentlichen Unterrichtsstunden exakt messbar“. Die Arbeitszeit im Übrigen sei „nicht im Einzelnen in messbarer und überprüfbarer Form bestimmbar“. Dabei komme es nicht auf die Ansicht einzelner Lehrkräfte darüber an, welcher Zeitaufwand zur Bewältigung ihrer Aufgaben notwendig und zweckmäßig ist.
Mit der Festlegung der Unterrichtsstunden bestimme der Dienstherr, „welche Anforderungen – insbesondere in zeitlicher, aber letztlich auch qualitativer Hinsicht – an die Vor- und Nachbereitung, Korrekturen, Elternbesprechungen, den Konferenzaufwand und den übrigen außerunterrichtlichen Arbeitsaufwand zu stellen seien“. Kurz gefasst: Wer länger arbeitet, ist selber schuld!
Gerichtsentscheidungen
Obwohl Ende der 1990er-Jahre eine vom Land Nordrhein-Westfalen (NRW) in Auftrag gegebene empirische Studie zu dem Ergebnis kam, dass Lehrkräfte an Rhein und Ruhr pro Jahr im Schnitt rund 200 Stunden mehr arbeiten als vergleichbare Landesbeamte, lehnte das Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW 2003 erneut die Klage eines Lehrers gegen eine Pflichtstundenerhöhung ab. Das Ausmaß der Arbeitsbelastung sei durch „subjektive und kaum messbare Parameter“ mitbestimmt. „Vor diesem Hintergrund teilt der Senat die in der Rechtsprechung wiederholt geäußerten Bedenken, ohne weiteres solchen Arbeitszeitgutachten zu folgen, die sich in weitgehendem Maße Methoden wie der Selbstaufschreibung der Lehrer bedienen.“
Dieser Auffassung erteilte das OVG in Lüneburg 2015 eine klare Absage. Es erklärte eine Pflichtstundenerhöhung für unwirksam, weil die niedersächsische Landesregierung es versäumt habe, empirisch zu ermitteln, ob dadurch die beamtenrechtliche Arbeitszeit überschritten wird. „Für den Senat ist auch nicht erkennbar, warum auf ,Selbstaufschreibungen‘ bzw. ,Befragungen‘ beruhende empirische Ermittlungen schon vom Grundsatz her nicht (…) herangezogen werden könnten. Denn ein Beamter muss allgemein vorgeschriebene oder konkret verlangte dienstliche Angaben wahrheitsgemäß und vollständig machen.“
Umstrittenes Thema Arbeitszeiterfassung
Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019, das die Arbeitgeber verpflichtet, ein „verlässliches, objektives und zugängliches“ System einzurichten, mit dem „die tägliche Arbeitszeit gemessen“ werden kann, kommt eine neue Dynamik in die Diskussion. Ohne eine Erfassung sei nicht sicherzustellen, dass die Schutzvorschriften der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie – Begrenzung der Höchstarbeitszeit, tägliche und wöchentliche Ruhezeiten – eingehalten werden. Und diese Richtlinie gilt, anders als das deutsche Arbeitszeitgesetz, auch für Beamtinnen und Beamte.
Der Gerichtshof sagt deutlich, dass dies ein System der Selbsterfassung sein kann und es auch bei mobiler Arbeit anzuwenden ist. Dem traditionellen Diktum der deutschen Rechtsprechung, nach dem die Arbeit der Lehrkräfte schon deshalb nicht gemessen werden könne, weil sie teilweise zu Hause erledigt werde, ist damit der Boden entzogen. Auch das Argument der Gerichte, der Arbeitsaufwand sei nicht im Voraus zu bestimmen, überzeugt nicht: Bei anderen hochqualifizierten Tätigkeiten (innerhalb und außerhalb des öffentlichen Dienstes) können Umfang und Inhalt der Arbeit ebenfalls nicht im Detail durch den Arbeitgeber vorgegeben werden. Trotzdem wird die Arbeitszeit in der Regel erfasst. Die Art der Arbeit entbindet den (Beamten-)Arbeitgeber nicht von seiner Schutzpflicht.
Die Corona-Pandemie zeigt: Die zusätzlichen Belastungen lassen sich durch das Deputats- oder Pflichtstundenmodell nicht ansatzweise abbilden.
Dennoch ist die Frage, ob Lehrkräfte ihre Arbeitszeit erfassen sollten, heiß umstritten – auch in der GEW. Vor allem die Erfahrungen mit dem Hamburger „Arbeitszeitmodell“ werden als warnendes Beispiel genannt. Wo vorher definierte Aufgaben „auskömmlich“ mit Zeitfaktoren „hinterlegt“ werden – also eine vorher definierte Anzahl von Lehrerstunden nicht überschritten werden darf – wird faktisch erforderliche Arbeit wegdefiniert. Die veränderte Arbeitswirklichkeit durch die Corona-Pandemie hat dies erschreckend deutlich gemacht.
Allerdings ist der Ansatz in Hamburg das Gegenteil dessen, was der EuGH fordert, nämlich tatsächlich geleistete Arbeitszeit zu erfassen. Auch das zeigt die Pandemie: Die großen zusätzlichen Belastungen – durch Wechsel- und Distanzunterricht, Test- und Hygienekonzepte sowie vieles mehr – lassen sich durch das Deputats- oder Pflichtstundenmodell nicht ansatzweise abbilden.
Deshalb hat sich eine Arbeitsgruppe der GEW des Themas Lehrkräftearbeitszeit angenommen. Auch beim außerordentlichen Gewerkschaftstag der GEW im Juni 2022 wird über viele Anträge rund um Arbeitszeitfragen diskutiert und beschlossen. Das Thema beschäftigt die GEW also auch weiterhin intensiv.
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