Personalmangel, Baulärm und Gewalt gegen Lehrkräfte: Der Arbeitsplatz Schule birgt viele gesundheitliche Gefahren für die Beschäftigten. Personalräte streiten für einen besseren Gesundheitsschutz.
07.01.2020 - Michaela Ludwig, freie Journalistin
Berlin baut. In den kommenden sechs Jahren werden in der Hauptstadt viele Schulen neu errichtet und „mehrere Hundert umfangreich saniert, umgebaut oder erweitert“, heißt es auf dem Hauptstadtportal. Ein Umbau im laufenden Betrieb bedeutet: „Gerüste und Staubschutzwände aus Baufolien in Fluren und Pausenhallen, Stemm- und Bohrarbeiten sowie Sperrungen von Gebäudeteilen“, beschreibt Christian Richter, Lehrkraft an einer betroffenen Schule, die Arbeitssituation. Selbstverständlich begrüßt der Bezirkspersonalrat für allgemeinbildende Schulen in Reinickendorf die lang erwartete Instandsetzung der teils maroden Gebäude. Doch: „Die Kolleginnen und Kollegen klagen über starke Belastungen durch den Lärm. Die Bauarbeiten stellen sie fast täglich vor neue Herausforderungen, auf die sie flexibel reagieren müssen.“
Die Gesundheitsdaten sprechen für sich: Lehrkräfte leiden im Durchschnitt häufiger unter psychischen und psychosomatischen Erkrankungen als Angehörige anderer Berufsgruppen. Mit bis zu 50 Prozent sind dies die Hauptdiagnosen beim frühzeitigen Ausscheiden aus dem Dienst. „Neben Personalmangel, Klassengröße und schwierigen Problemlagen der Schüler kommt nun noch die Arbeit auf einer Baustelle obendrauf“, führt Richter aus.
Der 49-Jährige berät seit vielen Jahren Lehrkräfte zum Thema Gesundheitsschutz. Kürzlich wandten sich Sportlehrkräfte nach mehreren erfolglosen Beschwerdeversuchen an ihn: Während die Schulturnhalle saniert wurde, mussten sich die Schülerinnen und Schüler in Containern außerhalb des Schulgeländes umziehen. Der Weg dorthin führte durch ein normalerweise verschlossenes Schultor. „Die Lehrkräfte mussten die Schüler begleiten und das Tor jedes Mal auf- und abschließen. Das raubte viel Zeit – von Unterricht und Erholungspausen“, so Richter. Der erfahrene Personalrat thematisierte das Problem in dem monatlichen Austauschtreffen mit Schulaufsicht und Bezirksstadtrat. Es hieß, man kümmere sich bereits. „Wo es in dem Moment hakte, haben wir nicht erfahren, da zu viele Akteure beteiligt waren: neben Bezirksamt und Schulaufsicht auch Schulleitung und Handwerksbetriebe“, erzählt er. Ein Teil der Belastung ließe sich jedoch auffangen, wenn das Kollegium besser über Termine und Ablauf der geplanten Maßnahmen informiert werde. Richter versucht nun, die Schulleitung beim Informationsaustausch zu unterstützen.
Kommunikation und Transparenz helfen, die Belastungen durch Bauarbeiten abzufedern, beseitigen diese jedoch nicht. „Uns sind die Hände gebunden, weil wir für das Personal, nicht für die Gebäude zuständig sind“, so Richter. Ansetzen könnten Personalräte erst, „wenn eine konkrete Gesundheitsgefährdung vorliegt“. So klagte in einem anderen Fall eine Kollegin, die unter einem Tinnitus litt, über die hohe Lärmbelastung in einem Mehrzweckraum mit schallharten Wänden und Decken.
Der Raum konnte nicht gesperrt, die Kollegin sollte nicht einfach in ein anderes Team umgesetzt werden. So haben die betroffenen Kolleginnen und Kollegen persönliche Berichte über die Mehrbelastung aufgrund des fehlenden Schallschutzes geschrieben, und der Personalrat hat einen sogenannten Initiativantrag auf schnelle Beseitigung des Mangels gestellt. Die Schulaufsicht stellte laut Richter daraufhin Umbaumaßnahmen in Aussicht – ohne Terminangabe. „Als wir mit einer Klage drohten, veranlasste sie eine Zwischenlösung. Deckenelemente und verstellbare Wände wurden eingezogen, die den Schall erheblich dämpften“, erzählt der Personalrat und freut sich über den Erfolg. „Die beteiligten Kolleginnen und Kollegen waren sehr froh. Zu oft müssen derartige Missstände hingenommen werden, ohne dass sich etwas verändert.“ Häufig argumentiere der Arbeitgeber vertreten durch die Schulaufsicht, dass dies eine Angelegenheit des Schulträgers und dieser daher für Lärmschutz oder bauliche Mängel nicht zuständig sei Das lässt Richter nicht gelten, denn „der Arbeitgeber betreibt die Arbeitsstätte und ist somit für den Gesundheitsschutz zuständig“.
Mit dem Arbeitsschutzgesetz aus dem Jahr 1996 hat der Gesetzgeber erstmals den Arbeits- und Gesundheitsschutz aller Beschäftigten einheitlich geregelt. Dass auch Lehrkräfte einen professionell organisierten Arbeitsschutz benötigen, wurde durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Jahr 2006 bestätigt. Der Arbeitgeber hat demnach die Aufgabe, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz von Lehrkräften durch geeignete Arbeitsschutzmaßnahmen sicherzustellen und kontinuierlich zu verbessern. Dabei hat der Personalrat weitreichende Mitbestimmungsrechte. In einem ersten Schritt gilt es, den Arbeitsschutz vor Ort zu verankern und mit Leben zu füllen: Laut Arbeitssicherheitsgesetz müssen Betriebsärzte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Sicherheitsbeauftragte bestellt und Arbeitsschutzausschüsse eingerichtet werden.
Das wird in den Bundesländern sehr unterschiedlich interpretiert und umgesetzt. „Auch 30 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes fehlt es für den ‚Betrieb‘ Schule in der Mehrzahl der Bundesländer bereits an diesen Grundvoraussetzungen für einen effektiven Arbeits- und Gesundheitsschutz“, schreiben Wolfhard Kohte und Ulrich Faber in ihrem Leitfaden Arbeits- und Gesundheitsschutz an Schulen. Dieser „organisatorische Rückstand“ habe sich in den vergangenen Jahren dank „diverser Initiativen der Personalräte“ verringert. Damit habe sich auch im Schulbereich bestätigt, „dass Fortschritte im Arbeitsschutz eng mit der Nutzung der Beteiligungsrechte der Betriebs- und Personalräte verzahnt sind“, sagt Kohte.
So geschehen im norddeutschen Schleswig: Auf Initiative der damaligen Personalrätin Gudrun Harries arbeitet am Berufsbildungszentrum (BBZ) heute der bisher landesweit einzige schulische Arbeitsschutzausschuss (ASA) zum Gesundheitsschutz. Vorher war allein der zentrale ASA im Kieler Bildungsministerium zuständig, an dem neben Vertretern von Ministerium und arbeitsmedizinischem Dienst auch Harries und eine Kollegin für den Hauptpersonalausschuss teilnehmen. Für die einzelnen Schulen sind auf Kreisebene Fachsicherheitsbeauftragte zuständig, doch „die haben nicht die Ressourcen, sich um jede Schule zu kümmern“, so die 58-Jährige. Für große Schulen wie das BBZ mit rund 200 Lehrkräften hält Harries einen eigenen Ausschuss für unabdinglich. „Man braucht Strukturen, damit Absprachen und Maßnahmen nicht aneinander vorbeilaufen.“
Im ASA sitzen Schulleitung, Sicherheitsbeauftragte, Personalrat und der schulische Koordinator für Gesundheitsthemen zusammen. Damit sei er sehr effektiv: Checklisten zum Thema Arbeitssicherheit wurden abgearbeitet, Brandschutzhelfer ausgebildet und Maßnahmen zur Gesundheitsprävention entwickelt. Mit dem Ausschuss habe der BBZ-Personalrat einen Ort, „um sich zu positionieren und eigene Initiativen einzubringen – kurz: unser Mitbestimmungsrecht geltend zu machen“, so Harries.
„Die Schulen sollten die Gefährdungen und Forderungen zur Beseitigung über das Schulministerium gegenüber dem Land dokumentieren, die sie wegen fehlender Mittel und Entscheidungsbefugnisse selbst nicht beheben können.“ (Uwe Schledorn)
Die Gefährdungsbeurteilung ist laut Kohte „das wichtigste Instrument zur Verbesserung gesundheitsgefährdender Arbeitsbedingungen“. Mit ihr werden sicherheitstechnische, aber auch psychische Belastungen an den Schulen erhoben. Das betreffende Land als Arbeitgeber ist gesetzlich verpflichtet, Maßnahmen zur Beseitigung der festgestellten Gesundheitsgefährdungen unter Mitbestimmung der Personalräte aufzulegen. In diesem Rahmen wurden in Nordrhein-Westfalen (NRW) von 2012 bis 2018 erstmals – neben den sicherheitstechnischen – auch die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz erhoben. Befragt wurden rund 180.000 Lehrkräfte an den 5.600 öffentlichen Schulen anhand eines international anerkannten Fragebogens (Copenhagen Psychosocial Questionnaire, COPSOQ). Die Freiburger Forschungsstelle für Arbeits- und Sozialmedizin hat die Daten ausgewertet. Veröffentlicht wurden Regionalberichte für die Regierungsbezirke sowie ein Gesamtbericht für NRW. Darüber hinaus erhielt jede Schule einen umfangreichen Schulbericht, den sie mit Bordmitteln selbst auswerten sollte.
Es sei „höchst problematisch, dass die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen den Schulen selbst überlassen ist“, findet Uwe Schledorn, langjähriger Lehrerrat an einem Förderzentrum, Bezirkspersonalrat und Mitglied im Leitungsteam Referat Arbeits- und Gesundheitsschutz der GEW NRW. Viele Lehrkräfte und ihre Lehrerräte seien überfordert, denn dafür benötigen sie komplexes Fachwissen. „Sie haben zwar die Rechte und Pflichten zur Mitbestimmung, aber nicht die Zeit für diese Aufgaben“, bringt es Schledorn auf den Punkt. Um sie dennoch zu befähigen, ihre Mitbestimmungsrechte durchzusetzen, schulen Schledorn und seine Kollegin im Leitungsteam des Referates, Harda Zerweck, die Lehrerräte, das Datenmaterial zu analysieren. Zudem raten sie ihnen, „den Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen“. Die Schulen sollten „die Gefährdungen und Forderungen zur Beseitigung über das Schulministerium gegenüber dem Land dokumentieren, die sie wegen fehlender Mittel und Entscheidungsbefugnisse selbst nicht beheben können“, zum Beispiel die Verkleinerung der Klassengröße. Damit sei der Arbeitgeber gesetzlich zum Handeln gezwungen.
„In einem Beschluss des Gewerkschaftstages der GEW NRW 2019 fordern wir Maßnahmen, die die Verhältnisse ändern, wie kleinere Klassen, weniger Pflichtstunden und mehr Anrechnungsstunden.“
Schledorn kritisiert, dass die Landesregierung bisher überwiegend Maßnahmen zur Verhaltensänderung aufgelegt hat, um gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen beizukommen. Initiiert wurden beispielsweise Workshops zu Resilienz und Stressbewältigung, Stimmtraining sowie Fortbildungen für Schulleitungen zu gesundheitsförderndem Führungsverhalten. „In einem Beschluss des Gewerkschaftstages der GEW NRW 2019 fordern wir Maßnahmen, die die Verhältnisse ändern, wie kleinere Klassen, weniger Pflichtstunden und mehr Anrechnungsstunden.“
Regelmäßig schulen Schledorn und Zerweck Lehrerräte und auch Personalräte in Grundlagen und Strategien des Gesundheitsschutzes. „Das Interesse ist groß, damit treffen wir buchstäblich einen Nerv“, so Schledorn. Ein drängendes Thema ist „Gewalt an der Schule“. Das entspricht einem COPSOQ-Ergebnis, nach dem Erfahrungen verbaler und körperlicher Gewalt zunehmen. Als Lehrer an einem Förderzentrum kennt Schledorn diesen Stressfaktor. Es sei „psychisch und physisch sehr fordernd, wenn man in eine Schlägerei verwickelte Schüler trennen muss oder selbst Ziel eines Angriffs wird“. Den Lehrerräten empfehlen Schledorn und Zerweck, gemeinsam mit den betroffenen Kolleginnen und Kollegen Dienstunfallanzeigen zu stellen, um im Falle etwaiger gesundheitlicher Folgen wie eines Traumas abgesichert zu sein. Die Bezirksregierung Münster hat 2017 eine Handlungsempfehlung für Schulen zum Thema Gewalt neu aufgelegt. Schledorn findet diese für die Praxis hilfreich. „Jedoch würden kleinere Klassen und mehr Personal für die Arbeit mit herausfordernden Kindern mehr bewirken.“
Gesundheitsschutz in Kitas: Kämpfen lohnt sich
Mit rund 6.800 Beschäftigten sind „Die Elbkinder – Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten“ ein großer Arbeitgeber in der Hansestadt. In den 187 Kitas sind 95 Prozent der Beschäftigten Frauen, der Altersdurchschnitt liegt bei 42 Jahren. „Hier geht es um die Frage, wie die Kolleginnen an ihrem Arbeitsplatz gesund alt werden können“, berichtet Sabine Lafrentz, seit 38 Jahren Mitglied im jetzt 33-köpfigen Betriebsrat. Das Renteneintrittsalter von Erzieherinnen liege im Durchschnitt bei 58 Jahren. „Viele Kolleginnen verlassen uns mit Abzügen oder gehen in die Erwerbsunfähigkeitsrente.“ Häufigste Leiden sind Rückenschmerzen und Verschleißerscheinungen in den Knien – Folge des vielen Hebens und Tragens der Kinder sowie der Arbeit auf dem Fußboden. Auch die psychischen Belastungen sind erheblich aufgrund großer Gruppen, häufigem Personalausfall und der Situation der Kinder und ihrer Familien.
In der Theorie, so Lafrentz, könne der Betriebsrat bei allen Maßnahmen zu Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie bei der Unfallverhütung mitbestimmen. „In der Praxis müssen wir vieles erkämpfen.“ Ein Beispiel sind die regelmäßig stattfindenden Gefährdungsbeurteilungen. Da der Träger sie bisher im Haus ausgewertet hat, waren die Ergebnisse und mehr noch die daraus folgenden Maßnahmen für die Beschäftigten unbefriedigend, beliefen sich laut Lafrentz „auf einige technische Maßnahmen“. Für die Auswertung der anstehenden Gefährdungsbeurteilung für psychische Belastungen hat der Betriebsrat deshalb eine internationale Ausschreibung durchgesetzt. Die beauftragte Firma wird auch Maßnahmen vorschlagen. Große Fortschritte verspricht sich Lafrentz dennoch nicht, denn die Umsetzung der Vorschläge obliege der unternehmerischen Entscheidung des Trägers und damit dem Geldgeber, also dem Senat. „Der Betriebsrat hat wenig Hebel, um Maßnahmen durchzusetzen.“ Dennoch ist es ein Anfang.
Ein größerer Erfolg sei die unlängst abgeschlossene Betriebsvereinbarung „Gefährdungsbeurteilungen“, in der sie mit dem Arbeitgeber vereinbart haben, „dass wir künftig auch kleinere, auf einen speziellen Bereich abzielende Gefährdungsbeurteilungen veranlassen können“. Derzeit erarbeitet der Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung zur „Begrenzung der Leistungen“. Vorgesehen ist, konkrete Aufgaben zu benennen, die bei Personalausfall gestrichen werden, um die vertretenden Kolleginnen zu entlasten. Eine solche Vereinbarung wäre „ein echter Meilenstein“, sagt die Betriebsrätin.