Von Christoph Ruf, freier Journalist, für die E&W
Am 20. November beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft (WM) der Männer. Austragungsort: Katar. Das Land steht wegen seiner Menschenrechtsverletzungen und der Ausbeutung der Arbeitsmigrantinnen und -migranten beim Bau der Stadien heftig in der Kritik.
Im September konnten sich Fußballfans in acht deutschen Städten ihr eigenes Urteil darüber bilden, wie es um die Menschenrechtslage in Katar steht. Über die Zustände in dem Wüstenstaat referierten auf einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Faninitiativen organisierten „Speakers Tour“ fünf Arbeitsmigranten aus Nepal und Kenia. Was sie zu berichten hatten, bestätigt die einschlägigen Dossiers der Menschenrechtsorganisationen und spricht den Worten des Ex-Fußballers und -Trainers Franz Beckenbauer von 2013 Hohn: „Ich habe nicht einen einzigen Sklaven in Katar g‘sehn. Die laufen alle frei ‘rum.“
Die Realität, das berichtete der Nepalese Krishna S., sieht allerdings anders aus als die Hochglanz-Kulisse, die naiven Europäern wie Beckenbauer vor Ort gezeigt wird. Hunderttausende Arbeitsmigranten leben in Massenunterkünften mit völlig unzureichenden sanitären Anlagen. Tag für Tag arbeiten sie bis zu 14 Stunden auf den Baustellen – bei Temperaturen von bis zu 50 Grad Celsius. Auf dem Papier sind solche langen Arbeitszeiten nicht erlaubt, Überstunden aber schon, wie Malcolm B. ergänzte: „Ich dachte allerdings, dass die freiwillig sind und zusätzlich bezahlt werden. Beides war bei mir nicht der Fall.“ Der Kenianer verbrachte vier Wochen in Isolationshaft, nachdem er in einem Blog über die Arbeitsbedingungen vor Ort berichtet hatte. Erst nach Zahlung einer hohen Geldstrafe durfte er das Land verlassen. Auf den direkt vom Fußball-Weltverband FIFA in Auftrag gegebenen Baustellen habe sich die Lage jüngst etwas verbessert, berichteten die beiden. Doch die machen nur 2 Prozent aller Baustellen aus. Und auch dort sind die Arbeiter faktisch rechtlos. 6.500 Menschen sind nach Recherchen der britischen Tageszeitung „The Guardian“ allein auf den WM-Baustellen gestorben. Die Ortskundigen bei der „Speakers Tour“ halten diese Zahl für zu niedrig. Sharan Burrow, Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), nennt die Verhältnisse vor Ort „moderne Sklaverei“.
Etwas besser ist die Lage mit Blick auf Kinderarbeit, die in Katar verboten ist – zumindest für katarische Staatsbürger. Doch das sind nur rund 300.000 Menschen. Je nach Baukonjunktur sind zwei bis zweieinhalb Millionen Einwohner „migrant workers“, von denen ein Großteil aus Ostasien kommt. Wenn Minderjährige arbeiten, sind das ausschließlich nicht-katarische Kinder. Auf den Baustellen komme das so gut wie nie vor – wohl aber in den Privathaushalten wohlhabender Katarer, in denen zuweilen neben der nepalesischen Haushälterin auch deren Kinder mithelfen müssen, wurde auf der „Speakers Tour“ berichtet. Ob das legal ist oder nicht, interessiere vor Ort niemanden, auch sexuelle Übergriffe in den Privathaushalten würden kaum geahndet.
Die dominierende reaktionäre wahhabitische Islam-Auslegung sorgt zudem für archaische gesellschaftspolitische Zustände. So darf eine Frau nicht ohne Erlaubnis des Vormunds heiraten. Ist sie dann in „festen Händen“, ist das durchaus wörtlich zu verstehen. Denn sie darf ohne Zustimmung des Ehemannes weder das Haus verlassen noch die Arbeitsstelle wechseln. Katar kennt zudem keine Presse- und Versammlungsfreiheit, keine freie Religionsausübung und keine freien Wahlen, Gewerkschaften sind verboten. Homosexualität kann in Katar grundsätzlich mit bis zu sieben Jahren Haft bestraft werden. Auch wenn solch ein Urteil seit 1996 nicht mehr ergangen ist, raten die Queer Football Fans (QFF) dringend davon ab, nach Katar zu reisen. Die Machthaber haben keinen Zweifel daran gelassen, dass sie Homosexuelle nur dann während der WM in ihrem Land dulden, wenn diese sich nicht als solche zu erkennen geben. QFF ist auch Teil der von den Buchautoren Bernd Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling ins Leben gerufenen Initiative „Boycott Qatar“, die mit Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International zusammenarbeitet. Seit Sommer haben ihre Aktivitäten ordentlich Fahrt aufgenommen. So hing der Slogan „Boycott Qatar“ im Oktober in fast allen Fankurven der Bundesligastadien. In vielen Städten verzichten Gastronomen darauf, Public-Viewing-Veranstaltungen anzubieten. Und so gut wie überall im Land wird während der WM-Spiele ein Alternativprogramm organisiert: vom Kneipen-Quiz bis zum Turnier auf dem nächstgelegenen Bolzplatz.
Dieser Artikel erschien in der E&W 11/2022, S. 38 f.
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Foto: Tim Reckmann / pixelio.de