Arbeiten mit dem Herrschinger Kodex

09. Januar 2013 Von: Stephanie Zuber Gruppenbeitrag
Herrschinger Kodex zur Diskussion

Die GEW regte kürzlich an, sich unter Bezugnahme auf den neu entstandenen Herrschinger Kodex vor Ort, in den einzelnen wissenschaftlichen Einrichtungen, über die Bedingungen für gute wissenschaftliche Arbeit zu verständigen. Die Fachgruppe HuF in Hamburg hat eben diesen Aufruf zum Anlass genommen, eine Standortbestimmung vorzunehmen. In Hamburg gibt es darüber hinaus erste praktische Erfahrungen vor Ort mit der Konkretisierung solcher Forderungen nach guten Arbeitsbedingungen für die Wissenschaft. Beides, die eigene Standortbestimmung und ein erster Erfahrungsbericht werden im Folgenden skizziert und können all denen als weitere Anregung dienen, die sich ebenfalls mit dem Kodex beschäftigen und die ggf. an einer konkreten Umsetzung arbeiten. (Grundlegende Infos zum Herrschinger Kodex gibt es hier.)

Herrschinger Kodex – Gute Grundlage mit Potenzial nach oben in ausgewählten Punkten

Viele Punkte, die im Herrschinger Kodex (und zuvor bereits im Templiner Manifest) angesprochen werden, finden unter den Aktiven der HuF-Gruppe Hamburg große Zustimmung. Dass die Gewerkschaften insgesamt – und allen voran die GEW – seit einigen Jahren die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft mit Nachdruck zum Thema macht, wird als großer Gewinn gesehen. Bezogen auf den Kodex werden vor allem die Ideen zur besseren Perspektiventwicklung für Postdocs durch Tenure-Track-Optionen als innovativ und vielversprechend eingeschätzt. In einigen Punkten kristallisierte sich jedoch auch Kritik heraus: Hier wurden innerhalb der HuF-Gruppe bzw. von einzelnen innerhalb der Gruppe Forderungen formuliert, die über den Herrschinger Kodex hinaus reichen und die nach unserer Einschätzung bei einer Vor-Ort-Diskussion guter Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft Berücksichtigung finden könnten. Zum einen finden die wissenschaftlich Beschäftigten, die sich nicht auf einer Qualifizierungsstelle befinden zu wenig Beachtung. Zum anderen sollte der Punkt Chancengleichheit von Frauen und Männern weitergehend berücksichtigt werden. Zudem wurde auch der Punkt Familienfreundlichkeit diskutiert.

Wissenschaftliche Karrierewege jenseits von Qualifizierungsstellen

Für Doktorand_innen und Postdocs formuliert der Herrschinger Kodex einige Vorschläge zur transparenteren und verlässlicheren Gestaltung der Berufsperspektiven. Viele wissenschaftliche Mitarbeiter_innen können sich jedoch nicht auf den Status als Doktorand_in oder Postdoc berufen, da diese Bezeichnungen häufig kein Bestandteil der Arbeitsverträge sind. Dies gilt insbesondere bei Drittmittelstellen. Folgende zusätzliche Ideen wurden in der Diskussion generiert, die die Situation dieser Personengruppe verbessern können:

  • Dort, wo es möglich ist, beinhalten Arbeitsverträge einheitliche Bezeichnungen für Qualifizierungsphasen, die mit der Anstellung einhergehen.
  • Wissenschaftliche Mitarbeiter_innen, die nicht auf Qualifizierungsstellen beschäftigt sind, müssen ebenfalls die Möglichkeit zur Weiter- und Fortbildung erhalten. Es wird darauf hingewirkt, dass Drittmittelgeber dies in angemessenen Umfang unterstützen und ein entsprechendes Angebot bereitgestellt wird (bzw. die Angebote für Doktorand_innen und Postdocs genutzt werden können).
  • Dort, wo sich über viele Jahre eine Kontinuität der Drittmitteleinwerbung gezeigt hat (z.B. MPIs), wird darauf hingewirkt, unbefristete Stellen aus Drittmitteln einzurichten.

Chancengleichheit von Männern und Frauen – „Butter bei die Fische“

Allgemeine Bekenntnisse zur Gleichstellung, wie sie im Herrschinger Kodex angesprochen werden, sind an Wissenschaftseinrichtungen mittlerweile weitestgehend Standard. Neben dem im Kodex geforderten Kaskaden-Modell für eine Quote – das im übrigen für von der GWK im November für alle gemeinsam von Bund und Ländern finanzierten außeruniversitären Forschungsorganisationen beschlossen wurde – können jedoch weitergehende Punkte generiert werden. Grund hierfür: Neuere Studien weisen auf Fortschritte in der Gleichstellung hin, aber auch auf anhaltende Ungleichbehandlungen. So haben beispielsweise Wissenschaftlerinnen häufiger Teilzeitstellen und sie sind öfter befristet beschäftigt als Männer – auch an der Universität Hamburg. Dies lässt sich nur zum Teil auf eine (gesellschaftliche) ungleiche Verteilung von Kinderbetreuungsaufgaben zurückführen; Arbeitszeit und auch die damit verbundenen Ressourcen sind aber ein entscheidender Faktor für Karrieren.* Die bisher verbreitete Praxis, Frauenanteile in 'Köpfen' und nicht in Vollzeitäquivalenten auszudrücken, verschleiert diesbezüglich die Situation. Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind sich demzufolge der eigenen Situation häufig nicht bewusst. Dies ist ein Beispiel für die Komplexität des Themas Gleichstellung und den notwendigerweise vielschichtigen Lösungsansätzen. Ergänzende Ideen für einen Kodex lauten daher:

  • Die Einführung eines Kaskadenmodells sollte mit der Einführung von Sanktionen bei Nicht-Einhaltung der Zielquoten verknüpft sein.
  • Die Hochschule bzw. Forschungseinrichtung muss sich verpflichten, aktiv an der Erforschung der Unterrepräsentanz von Frauen und geeigneter Gegenmaßnahmen mitzuwirken.
  • Die Hochschule bzw. Forschungseinrichtung verpflichtet sich zudem, eigene Qualitätssicherungs- und Monitoring-Prozesse dahingehend anzupassen, dass neue Erkenntnisse über Ungleichbehandlungen berücksichtigt werden. Es wird aktiv nach eigenen, möglicherweise verdeckten Mechanismen der Ungleichbehandlung gesucht.
  • Bei der Auswahl bzw. Berufung von Personal wird stärker auf das wissenschaftliche Potenzial der Personen geschaut, als auf die bisherige kumulierte Leistung. Für die Bewertung der bisherigen Leistung wird berücksichtigt, unter welchen Bedingungen diese erbracht wurden.

Es wird darauf hingewiesen, dass der Wissenschaftsrat in seiner Bestandsaufnahme „Fünf Jahre Offensive für Chancengleichheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern“ (WR 2012) zahlreiche konkrete Empfehlungen gibt.

Familienfreundliche Gestaltung von Karrierewegen

In unserer HuF-Gruppe wird der Punkt Familienfreundlichkeit des Herrschinger Kodex ebenfalls unterstützt. Ergänzend wird auf zwei Punkte hingewiesen: Erstens ist es unserer Ansicht nach vorrangig Aufgabe des Staates, bedarfsgerechte Betreuungsmöglichkeiten für Kinder bereitzustellen. Da dies derzeit staatlicherseits nicht in ausreichendem Umfang geschieht, wird das Engagement von Hochschulen und Forschungseinrichtungen, hier selbst Angebote zu schaffen, ausdrücklich begrüßt. Zweitens ist auch bzgl. der Familienkomponente auf eine andere Lesart von Berufsbiographien hinzuwirken. Solange gute Leistung immer noch mit einer bedingungslosen und zeitintensiven Hingabe an die Wissenschaft assoziiert ist und quantifiziert, kumuliert bewertet wird, werden nur die in Top-Positionen gelangen, die diesem familienunfreundlichen Bild in ihrer gesamten Erwerbsbiographie weitestgehend entsprechen. Sehr gute Leistung erbringen nach unserem Verständnis aber diejenigen, die die jeweiligen zeit- und materiellen Ressourcen optimal ausschöpfen. Hochschulen und Forschungseinrichtungen sollten ihren Talentpool nicht auf diejenigen beschränken, die allzeit im Büro oder Labor anzutreffen sind. Dies heißt wie im vorangegangenen Abschnitt: Bei Auswahl- und Berufungsverfahren sind Lebensverläufe auf ihr Potenzial hin zu vergleichen, nicht auf Grundlage kumulierter Leistung. Familienfreundliche Arbeitsbedingungen, wie sie im Herrschinger Kodex angesprochen werden, sind ohne Frage ein Gewinn an sich – um familienfreundliche Karrieren zu ermöglichen, Bedarf es zusätzlich eines veränderten Leistungsverständnisses.

Arbeiten mit dem Herrschinger Kodex – erste praktische Erfahrungen

In der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg findet derzeit ein Organizing-Pilotprojekt der GEW statt (siehe hierzu eigener Artikel „Don’t mourn – organize!“). Nach eingehender Betrachtung der Ist-Situation im Mittelbau der Fakultät und nach zahlreichen Gesprächen mit Beschäftigten wurde gemeinsam mit dem Mittelbau-Treffen ein Forderungskatalog formuliert, der nach einer Unterschriftenaktion mit möglichst breiter Unterstützung dem Dekanat überreicht werden soll. Für die Zusammenstellung der Forderungen wurde der Herrschinger Kodex genutzt, es wurden jedoch nur die Punkte herausgegriffen, die den Beschäftigten derzeit besonders wichtig sind. Angepasst auf die spezifische Situation der Fakultät und ergänzt um spezielle Punkte, konnte unter zu Hilfenahme des Kodex so zügig eine Grundlage für die Unterschriftenaktion geschaffen werden. Über den Erfolg der Initiative wird in einem weiteren Artikel zu berichten sein.

Fazit

Der Herrschinger Kodex bietet viele Anknüpfungsmöglichkeiten für die konkrete Arbeit und die eigene Positionsbestimmung. Dies gilt selbst dann, wenn in einzelnen Punkten noch „Spielraum nach oben“ gesehen wird und die GEW mit ihren Forderungen und Vorgaben für gute Arbeit in der Wissenschaft unserer Ansicht nach diesen auch nutzen sollte.

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* Siehe hierfür beispielsweise die unten angeführte Literatur.

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Literatur:

Engels, Anita / Zuber, Stephanie / Beaufaÿs, Sandra / Ruschenburg, Tina (2012): Frauenanteile und Beschäftigungspraxis in der Exzellenzinitiative, in: Hochschulmanagement -- Zeitschrift für die Leitung, Entwicklung und Selbstverwaltung von Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen, Heft 4/2012, S. 105-109

Haffner, Yvonne (2007): Mythen um männliche Karrieren und weibliche Leistung, Leverkusen/Opladen

Lind, Inken (2012): Mit Kindern auf dem Karriereweg – Wie kann Vereinbarkeit von Elternschaft und Wissenschaft gelingen?. Beaufays, Sandra / Engels, Anita / Kahlert, Heike (Hg.) Einfach Spitze? Neue Geschlechterperspektiven auf Karrieren in der Wissenschaft. Frankfurt/New York, S. 280-311

Metz-Göckel, Sigrid / Möller, Christina / Heusgen, Kirsten (2012): Kollisionen – Wissenschaftler/innen zwischen Qualifizierung, Prekarisierung und Generativität, in: Beaufays, Sandra / Engels, Anita / Kahlert, Heike (Hg.) Einfach Spitze? Neue Geschlechterperspektiven auf Karrieren in der Wissenschaft. Frankfurt/New York, S. 233-256

WR – Wissenschaftsrat (2012): Fünf Jahre Offensive für Chancengleichheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Bestandsaufnahme und Empfehlungen, Drs. 2218-12, Bremen 25 05 2012

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Zusammenfassung der Diskussion: Stephanie Zuber, überarbeitet von Sylvia Lässig