Wir haben die Wahl - Was für ein Land

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Damit Empathie nicht zum Lippenbekenntnis verkommt

Mein elfjähriger Sohn lernt gerade Bruchrechnung. Da geht es um das Teilen von Torten und Pizzen immer unter der Fragestellung, wie viel jedes Kind bekommt, wenn in der Klasse 18, 20 oder 28 Schüler_innen sitzen. Es geht also um den Anteil eines/r jeden. Bislang ist noch nicht die Frage aufgetaucht, wie sich der Kuchen denn aufteilen würde, wenn die zwei besten Schüler_innen schon mal 2/3 des Kuchen kriegten und der Rest der Schüler_innen sich das verbleibende Drittel teilen müsste. Ich wage zu behaupten, dass eine solche Frage nicht gestellt würde. Nicht, weil sie zu kompliziert wäre, sondern weil jede/r Lehrer_in in Erklärungsnöte geriete, da in diesem Alter noch ein Gerechtigkeitssinn vorherrscht, der einen Sturm der Entrüstung auslösen würde.

Die Frage lautet also, in welchem Alter beginnt es eigentlich, dass wir Normalbürger_innen uns mit einer Situation abfinden, die unseren Alltag prägt? Wie kann es sein, dass es den Sozialisationsagenturen gelingt, bei uns ein Alltagsbewusstsein herzustellen, dass wir, die wir uns erwachsen nennen, diese schreiende Ungerechtigkeit als normal hinzunehmen bereit sind.

Ja, im globalen Maßstab lässt es sich leicht schwadronieren, dass wir auf Kosten der Dritten Welt leben. Im Zeitalter des Imperialismus hatte Karl Marx hierfür den schönen Begriff der Arbeiteraristokratie ‚erfunden‘, die an dem üppigen Reichtum aus den Kolonien partizipierte. Er meinte damit jene aus dem Joch der Tagelöhner Aufgestiegenen, die sich nun als stolze Besitzer eines Eigenheims – wer kennt nicht die Bilder der englischen Reihenhaussiedlungen – fühlen durften. Dass diese Sozialpolitik nicht immer zur Radikalisierung der arbeitenden Klasse beigetragen hat, darüber wurde viel geschrieben. Sich in der Sicherheit wiegend, dass heutzutage von den Elenden dieser Welt ohnehin keine ernstzunehmenden Ansprüche an uns persönlich gestellt werden, geben wir uns generös. Ja, dieses Unrecht gehört abgeschafft, hört man von uns, die wir uns dank einigen Wohlstands im obigen Sinne ebenfalls geadelt fühlen dürfen, wohl wissend, dass den Worten keine Taten folgen müssen. Stattdessen verlieren wir uns gerne ins Psychologische. Nicht ohne Grund ist Empathie das neue Modewort. Nicht schlecht, dies als kategorischen Imperativ einzufordern, bloß besteht dabei die Gefahr, dass es lediglich als Legitimation fürs Nichtstun fungiert.

Auf europäischer Ebene auf jeden Fall scheint es mit der Empathie nicht so weit her zu sein. Die aktuelle deutsche Politik sorgt sich allenfalls darum, dass der Laden insgesamt nicht zusammenbricht. Das kostet Geld, das man aber dank des im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft viel zu niedrigen Euro-Kurses mehrfach wieder einspielt. Man gibt sich generös, manchmal, wenn die gestellten Bedingungen erfüllt werden, nicht ohne zu betonen, dass man aber nicht auf Dauer bereit sei, Zahlmeister zu sein. Diese Attitüde des deutschen Wesens könnte ja tatsächlich zur Genesung der europäischen „Partner“ führen, allerdings um den Preis hunderttausendfacher elender Existenzen. Ein Zielkonlikt also: Wer die ‚Spesen‘ dieser Politik zu zahlen hat, kann folglich nicht mit Empathie rechnen. Höchstens mit Zynismus: jene Elenden hätten eben wohl lange Zeit über ihre Verhältnisse gelebt. Wobei mit ‚jene‘ diejenigen ausgespart bleiben, die mit ihrem maßlosen Verhalten als Banker und/oder Steuervermeider auf ihren Yachten in erster Linie darauf bedacht waren, dass die Champagnerproduzenten nicht in die Krise gerieten.

Auf die nationale Ebene gezoomt erleben wir zurzeit eine Stimmung, die von den Meinungsmachern eher als harmonisch charakterisiert wird. Allen Bemühungen zum Trotz gelingt es vor allem den großen Parteien nicht so recht, die Unterschiede in ihrer Programmatik dem Wahlvolk klarzumachen. So richtig Schwung ist im Wahlkampf nicht drin. Es scheint, man hat alle ruhig gestellt. Die Krümel, die das Sozialsystem für alle jene bereitstellt, die als Reservearmee dafür sorgen, dass die Löhne im Keller bleiben reichen scheinbar aus, damit die Betroffenen stillhalten. Die ansteigenden Beschäftigungszahlen sollen Optimismus verbreiten, so dass die Unruhe, die noch vor kurzer Zeit bei so manchem Angehörigen der Mittelschicht Abstiegsängste hervorgerufen hatte, verdrängt zu sein scheint. Die Steuereinnahmen sprudeln, die Kämmerer verringern zusätzlich dank niedriger Zinsen die Schulden in den öffentlichen Haushalten. Die weiter wachsende ungleiche Verteilung bei Einkommen und Vermögen ist kein Thema, das Protest hervorruft und folglich die Privilegierten beunruhigen könnte. Also alles bestens? Wären da nicht diese Meldungen von immer mehr prekären Beschäftigungsverhältnissen.

Welche Phantasie die Arbeitgeberseite an den Tag legt, wenn es um Kostenminimierung geht, dem Antipoden der Gewinnmaximierung, zeigt bspw. die steigende Zahl von Werkverträgen als Reaktion auf die in einigen Branchen durchgesetzten Mindestlöhne. Eine Entwicklung, die die Zahl der ‚Aufstocker‘, also derjenigen, die von ihrer Arbeit in einer Vollzeitbeschäftigung nicht leben können, nach oben treibt. Das ist eine indirekte Subventionierung der Unternehmen und letztlich Lohndumping. Ein Aufreger, wenn dies bspw. die Chinesen bei der Produktion ihrer Solarmodule machen; im europäischen Konzert scheinbar kein Thema, da die Deutschen so stark tonangebend sind, dass es keiner wagt, dies in der gebotenen Schärfe anzusprechen. Übrigens ein Widerspruch zur in anderen Zusammenhängen immer wieder traktierten Marktlogik, aus der man nicht heraus könne.

Und auch die steigende Zahl derjenigen, die nur noch mit Zweit- oder Drittjobs über die Runden kommen, passt nicht so recht ins rosige Bild. Dass mittlerweile über 25% aller Beschäftigten als ‚Niedriglöhner‘ gelten, die von ihren Vollzeitjobs nicht leben können, aber diesen Zustand als scheinbar normal hinzunehmen bereit sind, ist das „Verdienst“ der neoliberalen Einpeitscher, die nunmehr seit Jahren die Menschen glauben lassen, dass die Gesetze der Marktwirtschaft keine andere Wahl zulassen. Wenn man die Deutungshoheit über die gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge hat, nimmt man die Argumente, wie man sie braucht. Was sich allerorten national abspielt, hat längst auch Eingang in die Hamburger Schulen gefunden. Gerade durch die Umstellung auf den Ganztagsbetrieb gibt es mittlerweile zahlreiche prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Nicht nur, dass, wie sich jüngst zeigt, nicht einmal die notwendigsten personellen Ressourcen für die Begleitung behinderter Kinder bereitgestellt werden, sondern eben vor allem die durch Stückelung der Verträge und mit wahren Hungerlöhnen ausgestatteten Kolleg_innen ohne anerkannte formale Qualifikation, sind die Betroffenen. Auch hier wird der Sachzwang bemüht, dass es eben mehr finanzielle Mittel nicht gebe. Die Schuldenbremse ließe keine andere Politik zu. Dass es mittels umzuverteilenden Reichtums trotz dieser selbstauferlegten Restriktion anders ginge, spart man aus bzw. verweist auf die Zuständigkeit anderer. Getoppt wird diese Art der Argumentation nur noch, wenn man als Reaktion auf die naheliegende Forderung nach Erhöhung der Erbschafts- und Vermögenssteuer hört, dass das Kapital ja dann gleich dem scheuen Reh ins Ausland fliehen könne.

Gleichsam nur als Posse, ist das in einigen Schulen praktizierte Prozedere bei der Ausgabe der Mittagessen zu sehen. Bei mir meldet sich bei derlei Nachrichten immer die innere Stimme zu Wort: „Ja, aber wir haben doch gar nicht den 1. April!“ Wie unsensibel muss man eigentlich sein, wenn man vor dem Hintergrund des nun monatelang anhaltenden NSA-Skandals, bei dem es um nicht weniger als um unsere Vermessung im Interesse jener geht, die wir nicht damit beauftragt haben, wenn man isometrische Daten der Fingerabdrücke von Kindern nimmt (und speichert), um damit ihre Legitimation für den Erhalt einer Mittagsmahlzeit zu prüfen? Wie kann es überhaupt sein, dass in einem der reichsten Länder der Welt nicht jedes Kind, wenn es den ganzen Tag an der Schule etwas leisten soll, automatisch einen Anspruch auf ein Mittagessen hat? Es würde mich nicht wundern, wenn der Wegfall der Kosten für Kontrolle und Verwaltung einer selektiven Essensausgabe dies bereits ermöglichte.

Eine weitere Hiobsbotschaft erging dieser Tage, dass nämlich 22 000 (!) Schüler_innen in Hamburg von dem staatlich finanzierten Nachhilfesystem profitierten. Eigentlich eine Bankrotterklärung unseres Schulsystems. Ein Notnagel zwar und somit besser, als die Schüler_innen im Regen stehen zu lassen, aber eigentlich ein bildungspolitischer Skandal. Wir alle bewegen uns also in einem gesellschaftlichen System, dessen zentrale Bildungseinrichtung es nicht vermag, alle Schüler_innen ausreichend auf die selbstgesetzten Bildungsziele vorzubereiten. Das hat nicht nur mit finanzieller Ausstattung unserer Bildungseinrichtungen zu tun, aber ohne ausreichende personelle Ressourcen, wie wir es bspw. von Skandinavien kennen, scheint eine hinreichende Förderung aller Schüler_innen im normalen Regelschulvollzug nicht möglich zu sein.

Bevor wir also am 22. September in der Wahlkabine zum Stift greifen, sollten wir uns vorher an die eigene Nase (Ohrläppchen geht auch) gefasst haben und dann bei jenen das Kreuz machen, bei denen der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Empathie durch die Forderung nach einer gerechteren Verteilung der Chancen, die unaulösbar mit der materiellen Verteilung
verbunden ist, uns am geringsten erscheint. Selbst wenn dies vordergründig als ein gegen die eigenen Interessen gerichtetes Handeln erscheint, so ist auf lange Sicht die Lebensqualität in einer Gesellschaft, die auf Solidarität mit den Schwächeren setzt, wahrhaft höher als die einer Ellbogengesellschaft, in der allein auf Nutzenoptimierung des einzelnen bzw. Gewinnmaximierung der wirtschaftlichen Akteure gesetzt wird.

Wenn es uns gelingt, die Kindheitserinnerung in Bezug auf das, was wir damals als gerecht empfunden haben, wach zu rütteln, ergäbe sich die Chance auf eine wirklich erwachsene Sichtweise: dass eine Politik der vielbeschworenen Kräfte des Marktes, die scheinbar naturgesetzlich diese Ungleichheit erzwingt, auf den Misthaufen der Geschichte gehört. Gelänge dies, wäre es endlich auch schön, viele deutsche Fahnen in den Fußballstadien zu sehen und hasserfüllte Gesichter wie die von denen in Hellersdorf, die jüngst die Aufnahme von Flüchtlingen zu verhindern suchten, tauchten gar nicht erst auf. Erst einmal also: Pizza für alle – so viel, dass jeder satt wird.

Joachim Geffers
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