hlz-Notiz - Verschwommene Linien

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Der Mensch will Sicherheit. Er strebt deshalb nach Struktur, wünscht sich zumindest Haltepunkte und möchte sich zwischen Koordinaten verorten. Für uns als LehrerInnen versprach all dies in den letzten Jahren die Pädagogik, indem sie das individualisierte Lernen aufs Schild hob. Gleichsam als ‚Eier legende Wollmilchsau‘ sollte es dafür sorgen, dass frischer Wind durch die Klassenzimmer fegt, um den Mief der Ödnis und Langeweile, frei nach dem Motto: ‚Wenn alles pennt und einer spricht, dann nennt man das auch Unterricht‘, rauszulassen. Gleichzeitig verband sich damit die Hoffnung, Heterogenität als Prinzip durchzusetzen; Verschiedenheit in einer Lerngruppe, die einen sozialen Prozess in Gang setzen kann, von dem die Schwächeren und die Starken gleichermaßen profitieren. Dies alles auch, um bessere Voraussetzungen für mehr Chancengleichheit zu schaffen. Wer wollte schon einem Konzept mit diesem hehren Ziel widersprechen?

Und dennoch: Der Koloss stand eher auf tönernen Füßen, wie eine Studie aus dem letzten Jahr zeigt, die alle mit Pädagogik Befassten nicht ignorieren können. Der neuseeländisch/ australische Erziehungswissenschaftler John Hattie hat über 10 Jahre untersucht, welche Unterrichtsstile in welchem Maß Erfolge zeitigen. Das Ergebnis: Weder der individualisierte noch der frontale Unterricht, nicht Methodenvielfalt oder multipler Medieneinsatz sind das Entscheidende; das Maß aller Dinge ist die LehrerInnenpersönlichkeit. Das „Times Educational Supplement“ verglich das Werk mit der Entdeckung des heiligen Grals.

„Das Sichere ist (also) nicht sicher” (B. Brecht), was man beklagen kann. Man kann es aber auch als Auftrag verstehen, sich mit den Widersprüchen auseinanderzusetzen, Widersprüchen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen zeigen: auf der konkreten, auf die unmittelbare Erfahrung im Klassenzimmer bezogen, ob und inwieweit die Ansätze individualisierten Lernens die oben genannten Ansprüche einzulösen vermögen und auf einer politischen Ebene, die hinterfragt, ob sich nicht hinter all dem, was die Reformpädagogik zu bieten hat, nur ein geschickteres Konzept verbirgt, mit dem die SchülerInnen auf eine Arbeitswelt eingestimmt werden sollen, damit sie reibungsloser ‚funktionieren‘.

Unser Schwerpunkt hält Stoff für diese Auseinandersetzung bereit. Zum einen stellen wir die Forschungsergebnisse John Hatties dar – gefolgt von einem Artikel, der die Untersuchung aus der erziehungswissenschaftlichen Forschung heraus zu begreifen versucht. Zum anderen drucken wir einen Beitrag ab, der von einer Art Aufbruchstimmung in Hinblick auf eine neue Lernkultur in unseren Schulen zeugt, eine Aufbruchstimmung, die nicht nur PädagogInnen, sondern auch andere gesellschaftliche Kräfte ergriffen hat. (Man beachte die populärphilosophischen Gespräche, die neuerdings Daniel Precht im ZDF führt). Plötzlich befinden sich ehemals eher konträr zueinander stehende Gruppen in einem Boot. Vodaphon, McKinsey oder Bertelsmann, um nur einige zu nennen, stehen bereit, den Reformprozess mitzutragen. (Oder behaupten sie das nur?)

Ist etwa alles, was unter dem Etikett ‚Reformpädagogik‘ daher kommt, Teufelswerk, weil die Wirtschaft dieses Terrain für sich entdeckt hat? Wird mit der Individualisierung der Lernprozesse nicht die Verantwortung für den Erfolg oder eben auch Misserfolg viel stärker dem Einzelnen aufgebürdet, ohne dass die Hintergründe für ein etwaiges Scheitern ausreichend mit in Betracht gezogen werden können? Ist es so, dass das, was die Initiative ‚Soziale Marktwirtschaft‘* in Hinblick auf die Legitimierung des Kapitalismus zu leisten hat, flankiert wird von Bertelsmann u.a., um die geistigen Voraussetzungen für den Erhalt und die Stabilisierung des gesellschaftlichen Status quo zu schaffen? Ist der ganze Reformprozess also nichts anderes als eine Spielart des Neoliberalismus? Der abschließende Artikel stellt diese Fragen, ohne Lösungen bereit zu halten.

Egal, welcher Position man folgt – die Trennlinien scheinen verschwommen. Was einst als klare Grenze zum politischen Gegner zu erkennen war, muss heute u.U. neu deiniert werden. Gelingen kann dies nur durch Austausch und kontroverse Diskussion.

Sollte die Redaktion so etwas wie ein Mikrokosmos in Hinblick auf die gesamte Mitgliedschaft sein, dürfte sich eine lebhafte Debatte entzünden. Wir möchten dafür gern die Bühne bieten, auch wenn es am Schluss wieder einmal heißen wird: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.

 

Joachim Geffers
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