hlz-Notiz - Den Turbo abschalten

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Eigentlich haben wir das alles gewusst und wir schreiben ja auch in dieser Zeitung immer
wieder darüber. Aber als ich jetzt den in unserem Schwerpunkt abgedruckten aktuellen Befund zum Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Schulerfolg las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Über die Empörung hinaus, die das bei mir immer wieder auslöst, entwickelt sich die Phantasie, wie aus dem bröckelnden sozialen Kit Sprengstoff wird.

Den Befund über dieses Auseinanderfallen liefert nicht irgendwer, sondern der ehemalige Staatsrat Ulf Vieluf, der vor dieser Tätigkeit als anerkannter Bildungsforscher tätig war und es nun wieder ist. Wer, wenn nicht er, ist prädestiniert dafür, valide Aussagen zu treffen? Es gibt kaum jemanden, der über einen so langen Zeitraum den Schulerfolg vor dem Hintergrund der sozialen Entwicklung beobachtet hat. Er ist der ‚Vater‘ von KESS und LAU, den Langzeituntersuchungen über Schulerfolg, die in dieser Güte allein Hamburg vorweisen kann.

Es hat mit Gewalt zu tun, wenn einem Teil der Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft Chancen auf eine bessere Bildung genommen werden. Das ist als Tatbestand nicht neu. Aber die von Vieluf gebildeten Cluster der sozialen Gegensätze zeigen überdeutlich, in welchem Maße strukturelle Gewalt in ‚unserer‘ Stadt existiert. Denn trotz einiger Bemühungen in Sachen mehr Chancengleichheit läuft die Entwicklung genau gegenteilig! Die Segregation nimmt zu und das gegliederte Schulsystem wirkt dabei wie ein Turbo. Solange der nicht abgeschaltet wird, sprich: die aus Zeiten einer ständischen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts stammende Schulstruktur nicht auf dem Misthaufen der Geschichte landet, wird sich die Spaltung der Gesellschaft weiter vertiefen. Diese Struktur ist weder Gott gegeben noch ließe sie sich naturgesetzlich ableiten.

Eine Gesetzmäßigkeit mag hingegen darin liegen, dass das Bewusstsein der realen
Entwicklung immer hinterherhinkt. Insofern gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass unser Tun etwas bewirkt, diesen Abstand zu verringern. Es gilt, den Glauben an scheinbar systemimmanente Sachzwänge, an Marktlogik oder gar an eine Schicksalshaftigkeit zu erschüttern.

Deshalb der zweite Teil unseres Schwerpunkts, in dem vor dem Hintergrund der jüngsten sozialstatistischen Erhebungen die soziale Spaltung der Stadt beschrieben wird. Die Ungleichverteilung, sei es der Einkommen und noch mehr der Vermögen, schreit
zum Himmel! Die Lösung, die Reichen zur Kasse zu bitten, scheint einfach; dies politisch durchzusetzen, setzt einen Bewusstseinswandel voraus, der angesichts der gegenwärtigen Machtverhältnisse eher einem Kampf gegen Windmühlenflügel gleicht. Allerdings soll es Stürme in der Geschichte gegeben haben, die schon so manches als stabil geltendes Gemäuer zum Einstürzen gebracht haben.

Aber kommen wir zurück auf die Schlussfolgerung, die Ulf Vieluf in seinem Beitrag zieht: Um eine wirksame Kompensation der sozialen Ungleichheit zu erreichen, bedarf es Zeit. Die KESS 13 Untersuchung hat gezeigt, dass die Lernzuwächse der Stadtteilschüler_innen in der Oberstufe größer als die der Gymnasiast_innen sind, dass sie aber absolut gesehen am Ende, also beim Abitur, den Vorsprung, den diese nach Jahrgang 10 in die Oberstufe mit einbringen, nicht aufzuholen vermögen. Was liegt da näher, als den Stadtteilschüler_innen ein weiteres Jahr zum Aufholen der Defizite, quasi als Nachteilausgleich, zu gewähren? Das muss ja nicht für alle gelten. Wenn es aber optional angeboten würde, warum dann nicht auch den Gymnasiast_innen, die, aus welchen Gründen auch immer, mehr Lernzeit brauchen? Sollte dieser Gedanke stimmig sein, sind wir nicht mehr so weit entfernt von dem Vorschlag der GEW, eine gemeinsame Oberstufe zu schaffen. Ein Schritt, der den Konflikt G8/G9 lösen könnte, der aber auch dazu taugt, eine Konvergenz der beiden Säulen einzuleiten. Historische Prozesse verlaufen nicht linear. Was noch vor wenigen Wochen aussichtslos schien, kann in einer bestimmten politischen Gemengelage plötzlich doch eine Chance haben. Die Verhältnisse schreien danach, die Dinge in unserem Sinne zu verändern.

JOACHIM GEFFERS