Eine wie ich, Jahrgang 1959 und seit 1991 im Hamburger Schuldienst, aber aus einem anderen Bundesland, verdient A12. Zeitgleich haben meine Hamburger Kolleg_innen ähnlicher Altersstufe immer A13 bekommen, für genau die gleiche Arbeit.
Seit 2003 gibt es für alle Neueingestellten nur noch A12 und Beförderungsstellen.
Mein Alltag als Klassenlehrerin, auch das bin ich durchgängig seit 1991, birgt sicherlich ganz andere Anforderungen als die der finanziell wesentlich besser gestellten Gymnasiallehrkräfte.
Mein Alltag orientiert sich sehr am einzelnen Kind. Ich bin nicht nur dafür zuständig, Lesen, Schreiben, Rechnen, Sport, Kunst und Sachunterricht, Musik und Religion zu vermitteln, sondern vorrangig auch dafür zu schauen, wie es meinen Kindern geht. Wie mache ich aus der mir anvertrauten Anzahl von Schüler_ innen, die je nach politischem Interesse in meinem Lehrerinnenleben zwischen 18 und 30+ schwankte, eine Klasse? Wie schaffe ich eine Gemeinschaft? Ein außerordentlich wichtiger Schritt für die 5- bis 7-jährigen Mädchen und Jungen, die ich mit dem Schuleintritt in Klasse 1 kennen lerne.
Wen kann ich, wen muss ich fördern? Warum hat dieses Kind plötzlich so schlechte Ergebnisse in HSP oder HaReT? Sieht meine Schülerin nicht richtig, weil sie sich immer zu nah übers Heft beugt? Hört dieser kleine Junge schlecht oder versteht er nur nicht alles in meiner Sprache? Warum kann dieses schlaue Kind komplizierte Aufgabenstellungen lösen, scheitert aber an der Rechtschreibung? Vielleicht ist es doch sinnvoll, diesem Schüler die Schreibschrift zu ersparen? Ein Kind sprengt regelmäßig den Unterricht. Es ist laut und rücksichtslos und hält sich selten an Regeln. Haben die anderen 17- bis 29 Kinder nicht das Recht auf ungestörtes gewaltfreies Lernen? Wie helfe ich diesem Kind und auch allen anderen in der Klasse?
Eine Diagnostik in der Grundschulzeit beinhaltet immer auch die Frage nach den persönlichen Umständen: Fluchterfahrung, Armut, Desinteresse zu Hause, Krankheit eines Elternteils, zu viel Medienkonsum, Vernachlässigung oder ganz etwas anderes. Es gibt ganz schlaue Kinder, die mit den Anforderungen nicht zu Recht kommen, oder durchschnittlich begabte, die einen großen Ehrgeiz haben und viel mehr schaffen. Wie werde ich dem jeweiligen Kind gerecht, wenn ich es fördere? Ist es nach 14 Uhr nicht viel zu spät, etwas zu erreichen?
Fehlt ein Kind morgens und ist nicht abgemeldet, rufe ich zu Hause an. Mit Glück habe ich eine Telefonnummer, die gilt und unter der sich jemand meldet. Sonst muss gegebenenfalls jemand ausrücken, um das Kind ausfindig zu machen.
Wenn mir ein Schüler erzählt, Papa habe ihn gestern gezwungen, mit Zeigefinger auf dem Boden und einem Bein in der Luft zu stehen, muss ich schauen, was ich tun kann. Eltern anrufen, Gesprächstermine vereinbaren, das Jugendamt informieren, mit Familienhilfen Kontakt aufnehmen, Beratungsstellen kontaktieren, Rebus oder ReBBZ verständigen und mehr.
Was tue ich, wenn mir eine Schülerin ein selbst gemaltes Bild zeigt, dass auf einen sexuellen Übergriff hindeuten könnte? Jugendamt, Beratungsstellen für Missbrauch, eventuell die Mutter? Wie gehe ich am besten vor, ohne noch mehr anzurichten? Was darf ich? Wenig. Wer unterstützt mich?
Die großen Probleme hinterlassen Spuren, denn die Hilfe ist immer zu wenig.
Bei einem Kind drängt sich der Verdacht auf, dass es vernachlässigt und vielleicht ruhig gestellt wird. Ich werde von Beratungsstelle zu Beratungsstelle weiter geleitet und lande im Nichts.
Konnte ich dem Kind helfen, das von größeren Schülern im Bus belästigt und um Geld erpresst wurde?
Leichter geht es bei Kindern, die immer ohne Frühstück kommen, da ist direkte Hilfe möglich. Aber was ist mit denen, die sich morgens aufs Kuschelsofa legen und stundenlang auch bei großer Lautstärke schlafen, nicht nur einmal?
Nicht nur manchmal bin ich eine Detektivin auf den Spuren des Kindes. Mal reicht eine tröstende Umarmung oder auch ein Gespräch mit den Eltern. Zeitweise hilft vielleicht die Polizei. Tue ich das richtige für jedes einzelne Kind? Kann ich noch schlafen, wenn ich nichts erreicht habe?
Meine Arbeit mache ich nach wie vor gern, auch nach Grundschule, Primarschulabteilung einer Gesamtschule und Unterricht in Klasse 5/6/7 in Mathematik. Im Anschluss verlässliche Grundschule, danach AZM, Arbeit in integrativen Regelklassen mit mal 30 Kindern, mal unter 20 Schüler_innen. Zwischendurch viel Arbeit für die Primarschule, die als Idee leider scheiterte. Dann 2010 Leitung einer ersten Inklusionsklasse mit zwei Kindern mit geistiger Entwicklungsverzögerung und diversen (damals so genannten) EUSE-Kindern, ohne dass so recht jemand wusste, wie das am besten geht. Nun Regelklasse mit Lernbüro.
Spätestens in Klasse 3 muss ich mehr Leistung beurteilen, als mir lieb ist. Noten zu geben bedeutet auch immer 5en zu erteilen. Nützt das überhaupt jemandem etwas? Dem Kind sicher nicht. Der große Spagat ist zwischen individuellem Lernen und gleichem Bewerten. In Klasse 4 kommen die Empfehlungen für die weitere Schullaufbahn; eine Aufgabe, die ich mit sehr großer Sorgfalt erledige und durchaus abwäge, ob eventuell diese Schülerin oder jener Schüler auf dem Gymnasium Abitur machen kann, auch wenn ich weiß, dass es wenig Unterstützung von zu Hause geben kann oder wird. Wird dieses Kind, das ich in den letzten Jahren in der Regel gut kennen gelernt habe, gegebenenfalls verkraften zu scheitern? Habe ich überall die beste Empfehlung gegeben? Schließlich ist die Empfehlung eine richtungweisende Entscheidung.
Immer wieder gibt es ganz verschiedene Anforderungen des Systems. Was aber dauerhaft bleibt, ist die Sorge um jedes einzelne Kind.
Eine funktionierende Klasse hat immer etwas von Familie. Die Grundschulzeit ist ein schützender Rahmen für alle Kinder; ein Raum, um sich auszuprobieren, sich zu streiten, zu sein, voneinander und miteinander zu lernen, gemeinsam zu lernen, das Lernen zu lernen. Nichts ist schulisch wichtiger als diese Grundlage für ein erfolgreiches Leben, für eine spätere Ausbildung oder ein Studium, für die lebenslange Freude am Lernen. Ja, auch dafür haben wir A13 verdient. JA13!
Eva Klock, Grundschule Brehmweg