„Rabe bricht mit sozialdemokratischen Traditionen und Bildungsvorstellungen, die er selbst einmal mitformuliert und vorgeschlagen hat. Die von früheren SPD-Regierungen eingeführten und jahrzehntelang erfolgreich arbeitenden Integrationsklassen und Integrativen Regelklassen schafft er ab“ (Romey und Quiring: Hamburg weiter vorn? Jahrbuch für Pädagogik, 2015).
Noch im letzten Bürgerschaftswahlkampf wurden 120 neue Lehrer_innenstellen für Inklusion versprochen und nach Bildung des neuen Senats in vielerlei Presseerklärungen in selbstlobendem Gleichklang die Umsetzung dieses Wahlversprechens und die Weiterentwicklung der Inklusion behauptet. Alle wissen jedoch: Eigenlob stinkt. Doch der Reihe nach.
Mit der Drucksache 20/3641 – Titel: „Inklusive Bildung an Hamburgs Schulen“ – ist noch in der ersten Hälfte der vorangegangenen Legislaturperiode das Ende der Integrativen Regelklassen im Grundschulbereich und der Integrationsklassen in der Sekundarstufe 1 (Stadtteilschulen) besiegelt worden. Unter dem Druck der damaligen öffentlichen Diskussion, in der das „Aufwachsen“ bzw. Auslaufen bestehender Integrationsklassen als Sparmodell kritisiert worden ist, sind die Drucksache und die nachfolgende Handreichung „Inklusion und sonderpädagogische Förderung“ wortreich verteidigt worden. Selbst in der Handreichung finden sich Denkmodelle, die heute sentimentale Erinnerung wecken:
„…. Bis zu 60% der für sonderpädagogische Förderung zugewiesenen WAZ können von der Schule in Erzieher- oder Sozialpädagogenstellen umgewandelt werden (Professionenmix). Das ermöglicht dann die Doppelbesetzung von Unterrichtswochenstunden (UW) wie folgt:
- Schüler/in mit Förderbedarf LSE* Lernen, Sprache und Emotionale und soziale Entwicklung (Quelle: Handreichung Inklusion und sonderpädagogische Förderung): 3,5 UW (Halbtag), 3,8 UW (Ganztag)
- Schüler/in mit spez. Förderbedarf: 7,0 UW (Halbtag), 9,0 UW (Ganztag)
Hat eine Schulklasse zwei Schülerinnen oder Schüler mit Förderbedarf LSE und zwei Schüler mit spez. Förderbedarf, könnten also 21 Unterrichtswochenstunden im Halbtag bzw. 25,6 UW im Ganztag mit einer zweiten Kraft besetzt werden.“
Soweit die Theorie, denn Papier ist geduldig.
Nun ist mit Schuljahresbeginn 2015/2016 die bisher geltende systemische Ressource von 5,59 WAZ aufgehoben und ersetzt worden durch eine LSE-Ressource von 3,96 WAZ im Ganztag. Dabei ist die bislang weit verbreitete Unterversorgung von Grund- und Stadtteilschulen mit sonderpädagogischen Ressourcen teilweise abgebaut worden, da die Hamburg weit zu geringen Ressourcen auf gekürztem Niveau vermeintlich bedarfsgerechter verteilt worden sind. Angekündigt war aber eine Erhöhung der Lehrer_innenstellen an Stadtteilschulen auf 85 pro Jahrgang, beginnend im jetzigen Jahrgang 5 und aufwachsend in den folgenden Schuljahren. Selbst in der Antwort des Senats vom 24.11.15 auf die Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Boeddinghaus vom 16.11.15 (Drucksache 21/2278) wird von 85 Lehrer_innenstellen „mit der Einschulung in Klasse 5“ gesprochen.
Tatsächlich sind es aber nur 75 Stellen, die den Stadtteilschulen für Inklusion zur Verfügung gestellt worden sind. Dies haben wenige Tage nach der Senatsantwort die Hamburger Elternkammer, das Hamburger Bündnis für schulische Inklusion und die GEW entdeckt und veröffentlicht (siehe Pressemitteilungen vom 2.12. bzw. 3.12.15).
Was sollen wir von diesen erneuten Tricksereien halten?
(1) Ein Schulsenator, der in (Vor-)Wahlkampfdiskussionen im Schuljahr 2014/2015 unbeanzeige lehrbar an ‚seinen‘ Zahlen des Anteils im Bereich ,LSE sonderpädagogisch förderbedürftiger SuS‘ an der Gesamtzahl der SuS eines Jahrgangs, d.h. an durchschnittlich 4 Prozent eines Grundschuljahrgangs, festgehalten hatte – obwohl diese Zahlen bereits durch das Gutachten der Professoren Rauer & Schuck (2014) infrage gestellt und durch die Schulwirklichkeit der LSE-Diagnostik (Dezember 2014) in den Bereich des Wunschdenkens verwiesen worden sind –, hat 120 neue Stellen für die gegenwärtige Legislaturperiode (75 für STS, 25 für GS und 20 für die Vertretungsreserve) versprochen.
(2) Mit der aktuellen Umgestaltung der systemischen Ressource für SuS mit dem Förderbedarf LSE sind die Bürgerschaftsdrucksache 20/3641, die mit Beschluss der Bürgerschaft vom 14.6.12 angenommen worden ist, die Bedarfsgrundlage des Haushaltsplans der BSB für 2015/2016 und die Handreichung (s.o.) in wesentlichen Passagen stillschweigend in Altpapier umgewandelt worden.
(3) Mit dem Einpflegen von lediglich 75 Lehrer_innenstellen in den aktuellen Stellenplan der Stadtteilschulen für Jg.5 für Inklusion (ein Plus von 12,5 Stellen) anstatt versprochener und öffentlich verkündeter 85 (s. Senatsantwort vom 24.11.15), offenbart Schulsenator Rabe einen bedenklich geringen Respekt vor Hamburger Bürgerinnen und Bürgern und dem Parlament.
(4) Sollte der Schulsenator angesichts der Zahlentricksereien seinen Kopf in den Sand stecken und nichts gewusst haben wollen, stellt sich die Frage: ist er nur unwissend oder ist er der Rhetoriker der bildungspolitischen Kehrtwende, die die SPD vollzieht?
“Tatsächlich herrscht im öffentlichen Bildungswesen seit Jahrzehnten das Rotstiftmilieu und die öffentlichen Ausgaben für Schulen kennen nur eine Richtung: nach unten.” (Clemens Knobloch, hlz 12/2015)
Unter diesen Bedingungen nimmt die pädagogische Arbeit Schaden, für das Herzstück pädagogischer Arbeit, den Aufbau von Beziehungen zwischen Pädagog_innen und Schüler_innen, die der zusätzlichen Unterstützung bedürfen, fehlt im sozialdemokratisch- grünen Sparmodell schulischer Inklusion schlichtweg die Zeit, die im Zwei-Pädagog_innen-System der I- und IR-Klassen Gelingensbedingung erfolgreicher Arbeit war.
Stephan Stöcker für die Fachgruppe Sonderpädagogik & Inklusion
Der Artikel erschien in der hlz 1-2/2016
Bild: Thomas Plassmann