Kompetenz ist niemals wissensfrei

hlz Interview mit Dr. Alfred Lumpe, verantwortlich in der BSB für die Bildungspläne, über den Wandel des Lernens
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hlz: Kompetenz ist das Zauberwort, wenn es darum geht,was heutzutage Kindern in derSchule vermittelt werden soll.Sollen Kinder heute denn nur noch lernen, wie man lernt, aber brauchen sie darüber hinaus im eigentlichen Sinne, was das  Wissen betrifft, nichts mehr zu lernen?

Alfred Lumpe: Nein. Die Frage muss ich eindeutig verneinen. Die Kinder brauchen in unserer heutigen Zeit, die von einem dynamischen Wandel und von einer zunehmenden Informationslut geprägt ist, beides. Sie müssen wissen, wie sie lernen, wie sie ihre Potenziale ausschöpfen können, wie man in verschiedenen Bereichen Herausforderungen bewältigen kann und Wissen, das man noch nicht hat, sich besorgen kann. Diese Zugänge müssen sie kennen und fit darin sein, sie auch zu nutzen.
Dafür brauchen sie Fachwissen, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, damit sie sich in einer komplexen Wirklichkeit überhaupt orientieren und altersgemäß verantwortungsvoll handeln können. Also, sie brauchen beides. Sie brauchen ein Wissen, aber dies allein reicht nicht aus.  Es reicht nicht aus, wenn sie nur Wissen reproduzieren und rezitieren können, sondern sie müssen mit diesem Wissen umgehen können. Sie müssen unter Anwendung ihres Wissens handeln können. Sie  müssen dieses Wissen bewerten können und in neue Situationen übertragen können. Sie müssen das Wissen verwenden, in andere Zusammenhänge transferieren, zum Lösen von Problemen und komplexen Aufgaben intelligent anwenden können. Dieses Handeln muss in der Schule eingeübt werden.
In einem Unterricht, in dem die Schülerinnen und Schüler nur ein Wissen (auswendig) lernen – um es hinterher zu reproduzieren, werden die Schülerinnen und Schüler eben nicht dieses Handeln einüben können, sie werden nicht herausgefordert, die o.g. Kompetenzen zu entwickeln, sondern eben nur Wissen, totes Wissen, anzuhäufen. In einem derartigen Unterricht wird Lernen als „Wissenstransportgeschäft“ verstanden. Das Wissen soll in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler transportiert werden. Die Schülerinnen und Schüler sollen dann das Wissen, das sie erhalten und gespeichert haben, zu gegebenen Anlässen anwenden oder in einer Klausur wiedergeben. Das ist aber zu wenig, weil die Welt sich verändert, weil keine Situation der anderen entspricht und weil es heute darauf ankommt, Wissen zu transferieren und in neuen Zusammenhängen anwenden zu können.

hlz: Aber war es nicht immer auch in traditionellen Lehrplänen so, dass die verschiedenen Erkenntnisstufen genannt wur-den und eine der höheren Stufen war dann immer der Transfer. Wo ist der Unterschied zur Kompetenz?

Alfred Lumpe:Ich will den Blick etwas ausweiten und nicht nur antworten, was das Neue ist, was jetzt in kompetenzorientierten Bildungsplänen steht, sondern fragen: Warum haben wir heute Bildungspläne und zwar kompetenzorientierte Bildungspläne und nicht mehr Lehrpläne? Die alten Lehrpläne waren dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen festgelegt worden ist, was Lehrkräfte im Unterricht machen sollen. Da wurde für die jeweiligen Jahrgänge, für verschiedene Fächer und Zeiten festgelegt und anchen Lehrplänen ganz genau festgelegt, welche Inhalte in einer Doppelstunde oder anderen Einheiten behandelt werden sollen. Das hinter diesem Lehrplan liegende Konzept der Steuerung von Bildungsprozessen lautet: Es ist entscheidend, den Input für Unterrichtsprozesse vorzugeben,also das zu behandelnde Wissen vorzugeben, das gelernt werden soll. Was Lehrer lehren, wird von allen Schülerinnen und Schülern der Klasse gelernt. Wenn dieser Zusammenhang unterstellt wird, ist es sinnvoll, in den Plänen Themen und Inhalte festzulegen, die von allen innerhalb der gleichen Zeit und in gleichem Umfang gelernt werden sollen. In diesen Lehrplänen stand nicht, was Schülerinnen und Schüler am Ende einer bestimmten Einheit können sollen, sondern was die Lehrkraft unterrichten soll.
Dieses Steuerungsdenken ist nicht mehr zeitgemäß und zwar schon lange nicht mehr. Heute wissen wir, dass es diesen Unterschied gibt: Was unterrichtet wird, ist nicht identisch mit dem, was gelernt wird. Und Lernen ist ein subjektiver, ein aktiv konstruktiver Prozess und ohne Selbststeuerung nicht möglich. Jedes Kind lernt im gleichen Unterricht etwas anderes und bestimmt das Ergebnis wesentlich mit. Wenn 20 Kinder unterrichtet werden, dann ist das, was 20 Kinder dabei lernen nicht das Gleiche. Was am Ende herauskommt, unterscheidet sich sehr stark. Nimmt man diese Beobachtung ernst und will, dass jedes  einzelne Kinder seine bestmöglichen Bildungsziele erreichen kann, müssen die entsprechenden Plan- und Steuerungsvorgaben für die Gestaltung der Bildungsprozesse, die Lehrpläne, verändert werden.
Eine weitere Annahme, die sich mit dem Lehrplan verband, war, dass am Unterricht gleichartige Schülerinnen und Schüler teilnehmen, der sogenannte Durchschnittsschüler. Diesen Durchschnittsschüler gibt es nicht. Der Durchschnittsschüler als Neutrum, als eine Konstruktion, auf die hin pädagogische Theorien und didaktische und methodische Überlegungen konzipiert werden und Unterricht gestaltet wird, sitzt in keiner Klasse, in keinem Unterricht, sondern es sind immer Individuen, die individuell lernen, d.h. sich entsprechend ihrer individuellen Möglichkeiten mit dem Unterrichtsangebot auseinandersetzen und dementsprechend zu individuellen Lern-Ergebnissen kommen.
Wenn Lehrkräfte ernst nehmen sollen, dass sie in ihrer Klasse nicht vor 20 Durchschnittsschülern stehen und nicht für 20 Idealtypen einen Input geben und Lernprozesse organisieren, sondern für 20 individuelle Kinder und jedes Individuum seine eigene Lernbiografie hat, seine eigene Lerngeschwindigkeit, seinen eigenen sozialen Hintergrund, seine eigene emotionale Disposition, sein eigenes Interesse und seine eigenen Fähigkeiten, Lernstrategien und Wissensbestände mitbringt, um das zu verarbeiten, was die Lehrkraft einbringt, dann kann Unterricht keine Lehrveranstaltung und die Grundlage dafür kein Lehrplan sein.Dann muss Unterricht als Bildungsveranstaltung gedacht sein und die Grundlage dafür muss ein Bildungsplan sein. DieLehrkräfte müssen sich dann die Frage stellen: Wie muss ich die 45 Minuten oder den Arbeitsalltag des Schülers bzw. der Schülerin, die Lernprozesse am Vormittag und ggf. auch am Nachmittag, wie muss ich sie organisieren, damit jeder Einzelne das Bestmögliche für sich aus dem entwickeln kann, was ihm an diesem Tag an Wissen, an Herausforderungen, an Rückmeldungen, an Lernmöglichkeiten begegnet. Hier hat sich der Blick verändert. Es kommt jetzt nicht mehr ausschließlich darauf an, Wissen zu vermitteln (im Sinne von transportieren), sondern in diesem Bild kommt es darauf an, Situationen zu schaffen, in denen 20 Individuen ihre individuellen Bildungsprozesse optimal – und jeder dieser 20 hat eine eigene Optimierungslinie – entwickeln können. Wenn Lehrkräfte derartige Prozesse organisieren sollen, müssen sie dies auf der Grundlage entsprechender struktureller Vorgaben auch dürfen.
Wie muss dann ein Steuerungsinstrument aussehen und welche Vorgaben müssen gesetzt werden, damit Lehrkräfte die Möglichkeit erhalten, diese Prozesse organisieren zu können? Es kann dann in Lehrplänen nicht mehr festgelegt werden, welche Inhalte wann gelehrt werden sollen. Dann müssen Lehrpläne zu Bildungsplänen werden, die mit anderen Vorgaben zur Grundlage für die Steuerung der Lernprozesse werden. Mit den Bildungsplänen müssen die Ergebnisse beschrieben und Gestaltungsräume eröffnet werden. Am Ende des Lernprozesses soll der Lernende und zwar jede Schülerin und jeder Schüler über bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse verfügen und in der Lage sein, bestimmte Handlungen durchzuführen. Diese Anforderungen, also die Ergebnisse von Lernprozessen, sind die Vorgaben in Bildungsplänen. Das ist der Unterschied, der große Unterschied zwischen inhaltsbezogenen Lehrplänen und kompetenzorientierten Bildungsplänen, in denen deiniert wird, welche Anforderungen ein Schüler oder eine Schülerin in der Regel erfüllen soll, wenn er oder sie einen ganz bestimmten Bildungsabschluss erreichen will. Der Unterschied zwischen Lehrplänen und Bildungsplänen ist die Konsequenz aus der Weiterentwicklung des Wissens über die Steuerungsmöglichkeiten von Lernprozessen. In den kompetenzorientierten Bildungsplänen sind Vorgaben zu den Kompetenzen enthalten, die die Schülerinnen und Schüler am Ende eines Bildungsabschnittes erworben haben sollen.

hlz: Nun ist das auf dieser allgemeinen theoretischen Ebene wunderbar beschrieben. Lässt sich das konkret an einem Fach erläutern?

Alfred Lumpe: Ja, das kann an jedem Fach erläutert werden. Nehmen wir als Beispiel den Bildungsplan Deutsch für das Gymnasium, Sekundarstufe I. Dort ist schon im Inhaltsverzeichnis zu erkennen (zu den Hamburger Bildungsplänen vgl. www.bildungsplaene.hamburg.de), dass nicht mehr festgeschrieben ist, welche Inhalte wann unterrichtet werden sollen, sondern welche Kompetenzen die Schüler und Schülerinnen im Rahmen des Unterrichts entwickeln sollen. Es sind die fachlichen Kompetenzen, untergliedert in Kompetenzbereiche dargestellt. Es werden didaktische Grundsätze genannt, wie mögliche   Lernsituationen zu den Kompetenzbereichen didaktisch aufbereitet werden sollen und dann werden die Anfordeungen formuliert, also über welche   Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler am Ende von z. B. Jahrgangsstufe 8 verfügen sollen. Beim Blick auf die Anforderungen ist schnell erkennbar, dass Kompetenzen nicht ohne ein damit verbundenes Wissen auskommen. Kompetenzen sind ja – wenn ich das noch einmal sagen darf – nicht wissensfrei,auch nicht fachwissensleer, sondern im Gegenteil, eine Kompetenz ist die Beschreibung dessen, was ein Schüler oder eine Schülerin zu einem bestimmten Zeitpunkt können soll und umfasst damit sowohl Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Bereitschaften, Haltungen, Einstellungen, Strategien und  Routinen, über die die Schülerinnen und Schüler verfügen sollen. Kompetenzen beinhalten Fachwissen und werden handelnd erworben, indem die   Schülerinnen und Schüler z.B. auf vorhandenes Wissen zurückgreifen, sich neues Wissen aneignen, sich erforderliches Wissen beschaffen, Zusammenhänge in bestimmten Sach- und Handlungsbereichen analysieren und erkennen, angemessene Handlungsschritte durchdenken und planen,  Lösungsmöglichkeiten kreativ erproben, Handlungsentscheidungen treffen usw. usf. An welchen konkreten Inhalten sie diese Kompetenzen erwerben sollen und erwerben können, muss und kann nicht einheitlich für alle Lernenden vorgegeben werden.
 

hlz: Es ist also dem Lehrer völlig frei gestellt, was er und welche Literatur er mit den Schülern behandelt?
 

Alfred Lumpe: Ja und nein, es kommt darauf an, was unter "freigestellt" verstanden wird. Mit kompetenzorientierten Bildungsplänen ist es der Lehrklraft völlig freigestellt, welche Literatur sie behandelt. Im inhaltsbezogenen Lehrplan wäre vorgeschrieben, welche Werke in Jahrgang 8 zu lesen sind. Im Bildungsplan ist kein bestimmtes Werk vorgeschrieben.Es sind aber Kompetenzbereiche zu beachten udn es sind Anforderungen vorgegeben, also welche Kompetenzen erworben werden sollen, z.B. die Schülerinnen und Schüler können können Texte interpretieren, können sprachliche udn körpersprachliche Mittel zur Gestaltung von Situationen einsetzen, Redebeiträge anderer für die eigene Argumentation verwenden, sie können Strukturen udn Gestaltungsmittel eines Hörtextes erkennen. Sie können, wenn sie von anderen sprechen, zum Beispiel klar und umgrenzte Problemstellungen einfügen, kurze Vorträge, in elementarer Weise unterstützt von Medien, einsetzen usw.usf. Dem Erwerb dieser Kompetenzen muss der Unterricht dienen. Es ist jedoch nicht vorgegeben, ob sie in der Auseinanswersetzung mit einem Werk von Goethe oder Schiller oder oder mit anderen Werken oder an anderen Texten erworben werden.

hlz: Aber setzt da nicht die Kritik an der richtigen Stelle an, wenn gesagt wird: Also ein Klassiker ist nicht ohne Grund zum Klassiker geworden und gehörte deshalb früher auch nicht ohne Grund zum Bildungskanon, weil er bestimmte Strukturelemente aufweist, die dazu taugen, die grundsätzlichen Fragen des Lebens, des Seins überhaupt, der Frage nach Gut und Böse, u.v.a.m. damit abzuhandeln? Ist nicht durch dei Reduzierung auf Kompetenzen der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet?
 

Alfred Lumpe: Nein. es ist nicht der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet, sondern es ist der Notwendigkeit Tür udn Tor geöffnet, genau diese Ziele auch wirklich erreichen zu können. Wir können, um diese Ziele zu erreichen, vorgeben, alle müssen Goethes Faust lesen udn sich damit beschäftigen. Das funktioniert aber nur, wenn wir berechtigte Gründe hätten für die Annahme, dass das Lesen von Goethes Faust bei allen genau zu diesen Ergebnissen führt. Kann sein, muss aber nicht sein. Es kann sein, dass in der einen Klasse Goethes Faust genau die richtige Wahl ist. Es kann aber auch sein, dass für einen anderen Schüler oder eine andere Gruppe die Auseinandersetzung mit einem anderen Werk zu den Ergebnisse führt, dass die beiden Schülergruppen sich dann mit den Erkenntnissen aus Goethes Faust oder aus den anderen Werken auseinandersetzen. Deshalb findet sich hier im Bildungsplan unter der Kompetenz "Lesen, mit Texten und anderen Medien umgehen können" als Anforderung am Ende Jahrgangsstufe 8: "Die Scvhülerinnen udn Schüler kennen repräsentative altersgemäße epische, lyrische und dramatische Texte der Gegenwart und der literarischen Tradition, kennen und unterscheiden grundlegend journalistische Textsorten wie Meldung, Bericht usw., erfassen wesentliche Elementeeines Textes, erkennen mögliche Integration des Textes“ usw. usf.
Also, Sie sehen, es ist nicht der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. Mit den Vorgaben der Anforderungen und dem Verzicht auf die Bearbeitung bestimmter Werke wird Tür und Tor dafür geöffnet, dass die Bildungsziele auf klug gewählten unterschiedlichen Wegen erreicht werden. Die Lehrkraft oder das Lehrerkollegium der Schule kann und muss jetzt darüber entscheiden, auf welchem Weg und mit welchem Werk diese Anforderungen mit den konkreten Schülerinnen und Schülern umgesetzt werden können. Müssen alle Schüler im November und Dezember Goethes Faust lesen und im Januar eine Klausur darüber schreiben oder ist man differenzierter und sagt, wir bieten an – klar Goethes Faust, der hat sich bewährt. Viele werden ihn lesen und für diese Gruppe ist es auch das richtige Werk. Der Bildungsplan eröffnet aber weitere, ebenfalls sinnvolle Möglichkeiten. Zusammen mit der Kontingentstundentafelund dem schulinternem Curriculum entstehen speziische Gestaltungsräume, die für die Organisation schülergerechter Lernsituationen genutzt werden können. Die Kontingentstundentafel ermöglicht den zeitlichen Spielraum und die Aufstellung des schulinternen Curriculums ermöglicht die innerschulische  Abstimmung des Lernens in den Fächern, Aufgabengebieten und Lernbereichen und eröffnet damit Möglichkeiten, Lernen fachübergreifend zu verbinden. Das allein schafft auch die erwünschten Synergien. Die Lehrkräfte sind ja qualiiziert in der Beurteilung der Frage: In welchen Lernsituationen und mit welchen literarischen Beispielen können die jeweiligen Schülerinnen und Schüler dieser Anforderung genügen und mit der Auseinandersetzung mit welchem Werk können sie die Kompetenzen erwerben, die erforderlich sind, um ihre o.g.Fragen beantworten zu können? Die Lehrkräfte werden dazu ja nicht eine Gebrauchsanweisung von Irgendetwas lesen lassen oder einen Bericht in einer Zeitung. Also Lehrkräfte sind qualiiziert, um klug auswählen zu können: Ist die Textsorte, die ich hierzu wähle, für diesen Schüler oder diese Gruppe geeignet oder nicht? Und wenn sie feststellen, der Goethe und sein Faust ist es, dann ist es diese Textsorte und dann werden sie diese auch wählen. Wenn aber, wie gesagt, für eine andere Lerngruppe ein anderer Text besser geeignet ist, um diese Ziele zu erreichen, dann muss die Öffnung möglich sein. Mit kompetenzorientierten Bildungsplänen geht das.

hlz: Ein Hohelied auf die Kollegenschaft, der damit eine große Verantwortung zukommt. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Jochen Geffers.

Foto:© Dieter Schütz / www.pixelio.de