Seit Ende November 2016 läuft die Mobilisierung für die "Volksinitiative Gute Inklusion für Hamburgs SchülerInnen". Die GEW unterstützt die Initiative und zunehmend mehr Organisationen schließen sich dem Aufruf an. Im Vordergrund der Kampagne stehen Forderungen nach mehr Personal, mehr Räumen und Barrierefreiheit, "damit alle Schüler mit und ohne Förderbedarf ihre Potentiale im gemeinsamen Lernen entfalten können" (Ini-Vorlage vom 8.12.16). Seit Jahren sind dies auch unsere Forderungen in der GEW und es ist richtig, diese Volksinitiative personell und materiell zu unterstützen, damit sie ein Erfolg werden kann.
Was aber bisher in der Begründung der Volksinitiative fehlt, ist neben der Tatsache, dass in Hamburg nicht nur durch die Zerschlagung der I- und IR-Klassen und die Kürzung der Ressourcen unhaltbare personelle und räumliche Rahmenbedingungen für die Umsetzung der sogenannten Inklusion in Grund- und Stadtteilschulen geschaffen worden sind sondern dass durch bildungspolitische Entscheidungen des Senators ein unübersehbarer Wandel hin zu mehr Standardisierung, auch im Gewande des Bildungsmonitoring, zu mehr Testgläubig-keit, Konkurrenz und Ellenbogenmentalität, d.h. Exklusion, unsere Schulen durchdringt. Diese Entwicklung widerspricht elementaren Grundsätzen einer angestrebten inklusiven "Pädagogik der Vielfalt" und ist nicht nur mit einem quantitativen Mehr an Mitteln zu bremsen bzw. zu verhindern.
Die Standardisierung von Lern- und Bildungsprozessen ist ein schleichender, seit Jahren stattfindender Vorgang, der durch die flächendeckende Einführung von Kermit-Testungen, der Reaktivierung einer zeitaufwendigen, normorientierten LSE-Diagnostik in den Grundschulen, bei der die ReBBZs als diagnostische Kontrolleinrichtung fungieren müssen, und nicht zuletzt durch die Umschreibung sämtlicher Bildungspläne auf "Kompetenzorientierung" hin seine Hamburg-spezifische Beschleunigung findet. Hanno Middecke, Sonderpädagoge aus dem niedersächsischen Osnabrück, schreibt: " Die aktuelle Tendenz, Lernerfolge in jeder Stunde als Kompetenzgewinn zu verstehen, funktionalisiert die Welt in eine Ansammlung von Bewältigungsaufgaben." (H.M., 2015)
Die Folgen einer solchen Tendenz sind, neben Entfachlichung und Deprofessionalisierung des Lehrerberufes" (Anja Bensinger-Stolze auf dem Hamburger Gewerkschaftstag, Nov. 2016), eine Unterrichtsentwicklung, die, wenn Inhalte in den Hintergrund und Kompetenzen in den Vordergrund treten , "teaching for testing" zum Maßstab guten Unterrichts erklärt. Es erscheint als bildungspolitischer Geniestreich, dass Unterrichtsvorbereitung und -planung inzwischen Lernstandserhebungen wie Kermit, u.a. hinsichtlich der Aufgabenformate, ins Auge fassen und darauf vorbereiten.
Die Wiedereinführung des alten, klassischen Paradigmas einer Feststellungs- und Zuschreibungsdiagnostik in den Hamburger Grundschulen hat die Ansätze einer nicht-etikettierenden sonderpädagogischen lern- und entwicklungsprozessbegleitenden Diagnostik der ehemaligen IR-Klassen ad absurdum geführt und, was für mich das Schlimmste ist, mit dazu beigetragen, dass das alte medizinisch-biologistische Modell als Erklärungsansatz zur Genese von "Behinderungen" und "Störungen" in den Schulen wieder Einzug erhält. Diagnosegestützte, administrative Entscheidungen werden zunehmend anhand zweifelhafter IQ- und PR-Werte getroffen, damit Probleme dem Individuum zugeschrieben, während zugleich politische und soziale Kontexte ausgeklammert werden.
Prof. Birgit Herz hat auf einer Tagung der Leibnitz-Universität in Hannover am 23.9.16 diese Prozesse einer zunehmenden Biologisierung und Pathologisierung von "verhaltensgestörten" Kindern und Jugendlichen, die im Hamburger Pädagogen-Jargon gerne auch als "Verhaltensoriginelle" oder "SystemsprengerInnen" bezeichnet werden, in der Inklusion analysiert. Sie insbesondere sind die Verlierer einer auf Ausgrenzung und Etikettierung ausgerichteten Gestaltung der Inklusion.
Wir dürfen nicht übersehen, dass viele dieser Kinder mit besonderen Schwierigkeiten in ReBBZ-Klassen, temporäre Lerngruppen oder in kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtungen exkludiert werden und somit das überforderte inklusive System entlasten. Sie entlasten aber auch uns – Lehrkräfte, SozialpädagogInnen, ErzieherInnen – nämlich darin, Verantwortung für diese Kinder und Jugendlichen zu übernehmen, indem wir uns ihnen zuwenden und eine Beziehung zu ihnen aufbauen.
Es ist richtig und wichtig, das bildungspolitische Engagement für die Verbesserung der Ressourcenausstattung zur Umsetzung der Inklusion auf neuer Ebene fortzusetzen.
Aber gleichrangig muss - aus meiner Sicht - die Aufklärung über Standardisierung, die die Individualisierung der Lernprozesse zu Grabe zu tragen droht, sowie eine Abkehr vom medizinischen Modell in der Diagnostik und von den alles überragenden normvergleichenden Denk- und Handlungsmustern in der Öffentlichkeit kommuniziert werden, denn diese sind mit dem Grundgedanken der Inklusion unvereinbar.
Die quantitativen Ressourcen und die qualitative Ausrichtung der Inklusion sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Eine Initiative zur Verbesserung der quantitativen Rahmenbedingungen alleine reicht nicht aus. Was wir darüber hinaus brauchen, ist "einen qualitativen Wandel in der Steuerung der schulischen Inklusion mit einer bildungspolitischen Strategie!" (Blanck u.a., hlz 3-4, 2016, S. 33).
Ulli Meister, Fachgruppe Sonderpädagogik & Inklusion