„Armut erzeugt Exklusion – schlechte Bildungspolitik verhindert Inklusion“ – diese These der GEW Fachgruppe Sonderpädagogik bildete schon am 14.1.2011 die Basis für ein Symposium unter dem Titel „Armutszeugnis – Sind benachteiligte Kinder und Jugendliche Außenseiter in inklusiven Schulen?“. Damals zeigte die überwältigend hohe Teilnehmerzahl ein deutliches Interesse an einer Debatte, die die politischen Rahmenbedingungen der Inklusion mit in den Blick nimmt. Inzwischen sind fünf „pragmatische Jahre“ vergangen. Die damalige Vermutung, dass gerade marginalisierte Gruppen von Kindern und Jugendlichen am wenigsten von Inklusion profitieren, scheint sich zu bestätigen.
Die erfolgreichen integrativen Strukturen (IR/I-Klassen) in Hamburg sind abgeschafft. Es gibt keine neue überzeugende inklusive Praxis. Die soziale Disparität von Schulerfolg und Bildungschancen hat sich in Hamburg weiter verfestigt. Die STSn mit niedrigen KESS-Faktoren tragen die Hauptlast und werden zu „Restschulen“. Die strukturelle Unterversorgung von Schulen in sozial schwieriger Lage ist nachgewiesen. (Förderquote von 6.6% LSE in den 4. Klassen der Grundschule und eine Förderquote von 13.2% LSE in den STSn). Hohe Bedarfe und geringe Förderquoten korrelieren mit den KESSFaktoren. Die Problemhäufung in abgehängten Stadtteilen und deren Schulen zeigt sich u.a. an der hohen Zahl von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen pro Klasse. In Wilhelmsburger Grundschulen gibt es inzwischen Klassen, deren Hälfte SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind – sozialer Sprengstoff!
Es gibt mehr Nachfrage nach außerschulischen Hilfen und Unterstützung (§35a Schulbegleitung) und damit auch mehr marktwirtschaftlich konkurrierende Helferangebote in der Landschaft der Freien Träger. Das schafft aber keine Schulqualität, sondern z.T. prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Deprofessionalisierung. Anstatt personelle und materielle Ressourcen in eine wettbewerbsorientierte Helferlandschaft rund um Schule zu lenken, brauchen wir diese Mittel für die Schulentwicklung im System selbst. Kinder und Jugendliche in der Inklusion benötigen, um gut lernen zu können, in erster Linie gut ausgebildete beziehungsfähige Erwachsene, die die nötige Zeit und Kraft für ihre Bildungsarbeit haben und behalten. Es geht um die Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler ebenso wie um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten.
Behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder, Armutskinder, Kinder aus dysfunktionalen Familien, Kinder mit Migrationshintergrund, asylsuchende und geduldete Kinder und Jugendliche haben einen erhöhten Bedarf an Zeit, Zuwendung, Ausstattung und Personal. Sie sind aktuell die Verlierer einer misslungenen fachlichen Gestaltung der Inklusion. Vermehrt werden Kinder und Jugendliche mit besonderen Schwierigkeiten in ReBBZ-Klassen oder temporäre Lerngruppen exkludiert. Wir müssen befürchten, dass viele dieser Kinder ohne Schulabschluss, ohne Aussicht auf Berufsausbildung ins gesellschaftliche Abseits, in die Überflüssigkeit entlassen werden. Er fühle sich „… ziellos, wie ein Schrotthaufen im Weltall“ beschreibt ein türkischstämmiger Jugendlicher aus Wilhelmsburg seine Erfahrung mit umfassender gesellschaftlicher Ausgrenzung und Chancenlosigkeit.
Ohne sichtbares pädagogisches Konzept wird in Hamburger Grundschulen inzwischen zwar eine zeitaufwändige und fragwürdige Testung von Kindern als Steuerungsinstrument verbindlich gemacht. Gegen diese LSE-Diagnostik hat die Hamburger Lehrerkammer allerdings ein deutliches einstimmiges Votum abgegeben, das sein Echo in der Tagespresse fand. Die Hamburger Morgenpost titelte: „Diagnosen statt Pädagogik“ und brachte damit die Kritik der Lehrerkammer auf den Punkt: Pädagog_ innen müssen einen immer größer werdenden Teil ihrer Zeit und Kraft für Administration und Verwaltungstechnik anstatt für die ihnen anvertrauten Kinder aufwenden. Wir beobachten mit großer Sorge die Rückkehr zum alten klassischen Paradigma einer Feststellungs- und Zuschreibungsdiagnostik, bei der die ReBBZ als diagnostische Kontrolleinrichtung für Schulen fungieren müssen, anstatt alle Kräfte darauf zu konzentrieren, den Beratungs- und Bildungsauftrag entsprechend den immens gestiegenen Bedarfen zu erfüllen.
Wir brauchen einen qualitativen Wandel in der Steuerung der schulischen Inklusion mit einer bildungs- und gesellschaftspolitischen Strategie. Denn wir wissen, dass Deprivation und anregungsarme, isolierende Lebensbedingungen im frühen Kindesalter reduzierte Entwicklungsmöglichkeiten schaffen, Benachteiligungen und Behinderungen produzieren können. Wir brauchen mehr Investitionen in die Strukturen der Schulen, besonders in den sozial belasteten Stadtteilen, wo diese Kinder leben, damit vor Ort Unterricht, Pädagogik und Schulleben verändert werden können, und eine neue inklusive Lernkultur entsteht.
Der Fachtag wird ein wichtiger und spannender Auftakt für die weiteren Vorhaben der GEW zur Bilanzierung der Inklusion in Hamburg. Eine Fragebogenaktion wird folgen. Wir wünschen uns viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus vielen unterschiedlichen Bereichen, damit von diesem Fachtag eine Signalwirkung in Hamburgs Bildungsbereiche ausgeht. Die Veränderung unserer gemeinsamen Praxis ist dringend geboten, und es ist noch nicht zu spät.
Vorbereitungsgruppe der Fachgruppe Sonderpädagogik/Inklusion Blanck / Meister / Quiring / Stöcker
Abbildung: Thomas Plaßmann