LSE- Diagnostik: Gemeinsames Vorgehen hat einen Teilerfolg erzielt…
Zusammen mit dem Volksbegehren „Gute Inklusion“ trugen 10 Organisationen (1) den Vorstoß mit, das äußerst problematische Verfahren einer „zweistufigen Diagnostik“ zu verändern, das bis zum Schuljahr 2017/18 in den sonderpädagogischen Förderbereichen „LSE“ (2) speziell beim Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe galt. Dieses Verfahren war nicht nur von starker Bürokratie geprägt. Es betrieb zudem mit hohem Aufwand eine reine Feststellungsdiagnostik, die dem Ziel der Inklusion direkt entgegen steht. Daher wandten sich das Volksbegehren und 10 Organisationen gemeinsam an die Behörde mit dem Ziel einer Abschaffung dieser Form der LSE-Diagnostik.
Der Vorstoß fand Gehör. Im Gespräch mit der Behörde wurde eine Reform vereinbart, die die Nachteile des bisherigen Verfahrens zumindest abmildern sollte. Mit der Neufassung, mit „DirK“ (3), so war die Hoffnung, könnten die ReBBZ ihre bis dato ausgeübte Vorgesetztenrolle verlassen. Statt bürokratisch zu kontrollieren und zu verwalten sollten sie in Zukunft den Schulen bei Förderkonferenzen auf Augenhöhe gegenübertreten. Die Förderpläne der Grundschule würden, so war die Verabredung, zur entscheidenden Gesprächsgrundlage werden. Damit hätte Zeit gewonnen werden können: Zeit für die ReBBZ, nunmehr die Persönlichkeits- und Lernentwicklung einzelner Kinder aus verschiedenen Schulen intensiver zu beraten. Zeit auch dafür, diese Kinder bei ihrem Übergang in die Sekundarstufe unterstützend zu begleiten.
…aber es zeigt sich: „DirK“ bringt in der Praxis keine Verbesserungen
Nach der Einsetzung des neuen Verfahrens „DirK“ zum Schuljahr 18/19 wurden die Schulen zwar von einigen bürokratischen Vorgaben entlastet. Aber: Das umfangreiche Ausfüllen der vielen Erfassungs-bögen wurde lediglich auf die ReBBZ verschoben. Damit ist die Feststellungsdiagnostik nicht über-wunden, sondern mit DirK wird die Etablierung von immer mehr Intelligenztests weiter voran getrie-ben. Die ReBBZ üben nach wie vor mit massivem Personalaufwand eine Kontrollfunktion aus, anstatt die pädagogisch-psychologische Begleitung von Kindern in die Sekundarstufe hinein sicherzustellen.
Wir fordern deshalb: Abschaffung der „LSE“-Diagnostik beim Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe!
Es ist dringend notwendig, dass die mit der „LSE-Diagnostik“ verbundene Entwicklung der letzten Jahre gestoppt wird:
• Dominanz der Feststellungsdiagnostik
• Druck in Richtung immer früherer Etikettierung von Kindern
• Trend zu separierenden Denkkonzepten in sonderpädagogischen Schubladen mit einer Renaissance von Intelligenztests
Für „DirK“ gilt: „Wie bisher dient das Verfahren der Vorbereitung der Schulorganisation für die Jahrgangsstufe 5. Die Ressourcenzuweisung wird sowohl für die Grundschulen als auch für die weiterführenden Schulen gemäß der oben genannten bürgerschaftlichen Drucksache 21/11428 umgesetzt.“ (aus: BSB-Anschreiben zu DirK) Nur für den Übergang von der Primar- zur Sekundarschule gibt es dieses besondere Überprüfungsverfahren. In allen Schuljahren vorher und hinterher gilt: Die von den Schulen erstellen Förderpläne regeln zugleich die Feststellung des Förderbedarfs.
Die Sonderregelung ist keineswegs im Interesse der Kinder. Sie wurde ausschließlich etabliert, um die schulischen Ressourcen der Stadtteilschulen aus den entsprechenden Fallzahlen zu bestimmen. Den betroffenen Kindern aber schadet das Verfahren „DirK“:
• Es bleibt dabei, dass eine Tendenz zu früher Etikettierung vieler Kinder erzeugt wird, denn schon in Klasse 3 soll für Ende Klasse 4 entschieden werden. Und für die Grundschulen gilt: Jedes Kind, dass mehr etikettiert wird, ergibt für die aufnehmende Stadtteilschule mehr Ressourcen – über Jahre hinweg bis in den Jahrgang 10.
• Auch dem Ziel, Inklusion zu entwickeln, wirkt das Sonderverfahren entgegen: Der Zwang zur Etikettierung verstärkt beim einschneidenden Übergang von Klasse 4 zu 5 den separierenden Blick, den PädagogInnen gerade überwinden sollten.
Bessere Bedingungen für Inklusion: Etikettierungen überwinden – auf Förderdiagnostik orientieren
Schon seit geraumer Zeit liegt die Empfehlung der Professoren Schuck und Rauer vor, den „kategorialen Begriff des „sonderpädagogischen Förderbedarfs“ insbesondere für die Bereiche „Lernen“, „Sprache“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ grundlegend zu hinterfragen. Es müsse als offen gelten, so die Wissenschaftler bereits 2014 (4), ob mit diesen Etikettierungen möglich sei, die „kontinuierlich gestuften Realitäten individueller Fördernotwendigkeiten und -bedürfnisse“ angemessen zu beschreiben. Ob der „klassische Ausweis sonderpädagogischen Förderbedarfs einer inklusiven Schule überhaupt gerecht werden“ könne, müsse bezweifelt werden. In ihrer ausführlichen Studie von 2018 untermauerten sie diese Kritik: Sie plädieren für wirklich systemische Ressourcenzuweisungen, die Zurückdrängung von Etikettierungen und eine wirklich individuelle, prozessbegleitende Diagnostik für die Förderarbeit am Kind (5). Diagnostik ist wichtig – aber sie muss sich am Lernprozess des jeweiligen Kindes orientieren und Grundlage für die „adaptive Unterrichtsgestaltung“ werden.
Wir schlagen vor: Gemeinsam Veränderungen durchsetzen!
• Kurzfristig: Abschaffung der besonderen Feststellungsdiagnostik beim Übergang 4/5
• Mittelfristig: Überwindung der „sonderpädagogischen Förderbedarfe“ LSE – stattdessen Einführung einer systemischen Ressource auf Grundlage der Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards unterschreiten (s. EiBiSch, S. 308) bzw. Bildungs-anforderungen mit Blick auf den nächsthöheren Schulabschluss nicht erreichen
Statt „DirK“ müssen Verfahrenslösungen gefunden werden, die weder zum Nachteil der Kinder sind, noch dem Gedanken der Inklusion zuwider laufen, noch die Grundschulen dazu zwingen, entgegen ihren pädagogischen Grundhaltungen sortieren und etikettieren zu müssen. Dabei zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre, dass in Bezug auf die Stadtteilschulen nicht allein Sozialindizes zu berücksichtigen sind, sondern belegte Besonderheiten einzelner Schulen einfließen müssen. Wie eine neue, sinnvollere Regelung aussehen soll, kann unserer Meinung nach nur gemeinsam – und insbesondere nur unter aktiver Beteiligung der Betroffenen, der Stadtteilschulen – durchdacht und entwickelt werden. Deren Expertise ist von großer Bedeutung.
• Abschaffung des Sonder-Verteilverfahrens für Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarfen an die Schulstandorte für Klasse 5
Schon heute gibt es die gute Praxis vieler Grund – und Stadtteilschulen, beim Übergang einen engen Dialog über die Kinder zu führen. Diese Praxis sollte gestärkt und verbindlich gemacht werden. Die ReBBZ könnten - statt Feststellungsdiagnostik zu beaufsichtigen – hier in Zukunft eine wichtige Beratungsaufgabe übernehmen.
23.5. 2019 – GEW – Fachgruppe Sonderpädagogik und Inklusion
– Verband Integration an Hamburger Schulen – ViHS e.V.
Fussnoten:
(1) Elternkammer Hamburg, GGG Hamburg und Leitungen der Stadtteilschulen, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Grundschulverband Landesgruppe Hamburg e.V., Hamburger Bündnis für schulische Inklusion, Initiative Gute Inklusion, Lehrerkammer Hamburg, SchülerInnenkammer Hamburg, Verband Hamburger Schulleitungen e.V., Verband Integration an Hamburger Schulen e.V.
(2) …zu den sonderpädagogischen Förderbedarfen Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung .
(3) DirK = Diagnostik in regionaler Kooperation (Neuregelung der LSE-Diagnostik in Jahrgang 3 und 4)
(4) K.-D. Schuck /W. Rauer, Abschlussbericht über die Analysen zum Anstieg der Zahl der Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung (LSE) in den Schuljahren 2011/12 bis 2013/14 in Hamburg, 2014, S. VI
(5) Schuck / Rauer / Prinz: EiBiSch – Evaluation inklusiver Bildung in Hamburgs Schulen, 2018, S. 307 ff
Bild: Thomas Plassmann