Der 7. Juni 2020, der Tag an dem Demonstrant*innen die Statue von Edward Colton vom Sockel rissen, wird als ein Meilenstein in die Geschichte Englands eingehen. Fast symbolisch versenkten die Unterstützer*innen der Black Lives Matter Bewegung den Kaufmann Colton im Hafen von Bristol. Von dort liefen im 17. und 18. Jahrhundert 2.500 Sklavenschiffe aus. Colton erwarb damals seinen Reichtum im Sklavenhandel. 85000 Kinder, Frauen und Männer transportierten seine Schiffe von Westafrika auf die Karibikinseln, von denen 20000 auf der Überfahrt elendiglich starben. Nach seinem Tod vermachte Colton seinen ganzen Reichtum der Stadt Bristol, wo bis heute Straßen, öffentliche Gebäude und Schulen, seinen Namen als hochverehrten Mäzen der Stadt tragen, ja sogar Gedenkgottesdienste werden jedes Jahr abgehalten. Welches Leid, welche Grausamkeiten ihn zu diesem Reichtum brachten, wird nie beleuchtet.
Die Antwort von Marvin Rees, dem Bürgermeister von Bristol, spricht für sich:“Als Bürgermeister dieser Stadt darf ich das gewaltsame Entfernen der Statue nicht gut finden, aber persönlich,als in Bristol geborener Sohn jamaikanischer Einwanderer, empfinde ich keinen Verlust.“
Der im Hafen versenkte Colton hat ganz wörtlich über Nacht eine Eruption verursacht. Landesweite Proteste richten sich gezielt gegen die Verherrlichung von Männern, die durch Sklavenhandel, Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen und Ressourcen zum Reichtum Englands und Schaffung des British Empire beigetragen haben.
Plötzlich ist der strukturelle, institutionalisierte Rassismus Thema im ganzen Land. Die einen, wie der Premierminister Boris Johnson, negieren ihn und kriminalisieren die Protester*innen, andere machen deutlich, dass es um mehr als nur die Chancenungleichheit von ethnischen Minderheiten geht. Es geht um die Geschichtsschreibung.
Kevin Courtney, der Co-Vorsitzende der NEU, der größten britischen Bildungsgewerkschaft, fordert „Wir müssen unsere Lehrpläne dekolonisieren, wir müssen endlich die wahre Geschichte des britischen Imperiums schreiben. Es geht hier um einen Perspektivenwechsel von der Heroisierung der Ausbeuter auf die Gechichte der Ausgebeuteten. Viele Nachfahren leben heute in unserer vielfältigen Gesellschaft, haben unsere moderne Gesellschaft mitaufgebaut und sind unerlässlich für das funktionieren unserer Gesellschaft heute. Wie können sie sich mit diesem Land, in dem sie leben, identifizieren, wenn ihr Beitrag für dieses Land in dessen Geschichte gar nicht vorkommen?“
Diane Abbott, Abgeordnete der Labour Partei, feiert gerade ihr 30jähriges Jubiläum als erste schwarze Abgeordnete in Westminster. Sie erinnert sich:“In meiner ganzen Schulzeit habe ich im Geschichtsunterricht nie etwas über den Beitrag von Schwarzen zum Geschichtsgeschehen gehört. Ich hatte gehofft während meines Studiums in Cambridge etwas über den Beitrag meiner Vorväter und Mütter zu erfahren. Das konnte ich aber nur in der Bibliothek, in den Vorlesungen waren sie nicht existent. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, dass wir mehr schwarze Lehrer*innen als role model in den Schulen haben. Im Augenblick erleben Schüler*innen Schwarze nur als Putzfrauen oder Pförtner in den Schulen. Bildung ist die Grundlage für die Bewältigung des Rassismus in unserer Gesellschaft.“
Diane Abbott unterstützt schon lange, die Forderung der Bildungsgewerkschaften nach einer Dekolonialisierung der Curricula. Es geht nicht nur um die Dekolonialisierung der Geschichtsbücher. Es geht um den Lesekatalog im Englischunterricht, wo z.B.nur 2 von 15 Autor*innen nicht weiß sind, oder um Aufgaben und Beispiele in den MINT-Fächern, die ausschließlich aus einem weißen Kulturkreis stammen. In Musik und Kunst sieht es ganz ähnlich aus.
Es gibt jedoch immer mehr Beispiele, wo Lehrer*innen die Unterrichtsinhalte umgestalten. Diese Expertise sollte in der Umgestaltung der Lehrpläne genutzt werden.
Kevin Courtney:“Wir als Gewerkschaft fordern, die Lehrinhalte inklusiv zu gestalten. Inklusion bedeutet für uns selbstverständlich Gleichheit in unserer stark diversifizierten Schulgemeinschaft. Auch die Lehrer*innenausbildung muß hierauf ausgerichtet werden. Es reicht nicht nur auf die Schulcurricula zu schauen. Auch die Universitäten müssen ihre Inhalte dementsprechend überprüfen.“
Trotz der alles beherrschenden widersprüchlichen politischen Anweisungen zur Wiederbelebung des öffentlichen Lebens, besonders die Wiederöffnung von Schulen in der Coronazeit, hat die Rassismusdiskussion einen breiten Raum in der Öffentlichkeit eingenommen.
Kevin Courtney:“Wir sind nicht allein. Die Bildungsinternationale hat auf ihrem Weltkongress im letzten Sommer schon eine Resolution zur Dekolonialisierung der Curricula weltweit beschlossen. Zeit ist reif. Wir haben noch viel zu tun.“
Barbara Geyer, GEW Hamburg
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