Auf ihrer Aktivenkonferenz „Hochschule 2030“ im brandenburgischen Erkner hat die GEW am vergangenen Wochenende eine Halbzeitbilanz der Wissenschaftspolitik der Großen Koalition gezogen, aber zugleich den Blick nach vorne gerichtet.
In Zukunftswerkstätten haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der HuF-Aktivenkonferenz diskutiert, wie ihre Hochschulen in zehn Jahren aussehen sollten. Anlass dafür war der zehnte Jahrestag der Verabschiedung des wissenschaftspolitischen Programms der Bildungsgewerkschaft, das der Gewerkschaftstag der GEW 2009 in Nürnberg verabschiedet hat. Im kommenden Jahr gilt es außerdem, zehn Jahre Templiner Manifest zu feiern, mit dem die GEW 2010 ihre Kampagne für den „Traumjob Wissenschaft“ gestartet hat. „Mit unserer Kampagne haben wir die Verhältnisse zum Tanzen gebracht. Mit der Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes 2016, dem Tenure-Track-Programm oder über 100 Kodizes für gute Arbeit an Hochschulen und Forschungseinrichtungen konnten wir Bund, Ländern und Wissenschaftseinrichtungen erste Schritte abtrotzen. Doch jetzt heißt es: nicht zurücklehnen, sondern nachlegen. Wir wollen unsere Programme updaten und eine Strategie für die Durchsetzung unserer Ziele für die nächste Dekade erarbeiten“, sagte der stellvertretende Vorsitzende und Hochschulexperte der GEW, Andreas Keller, in seiner Eröffnung.
Halbzeitbilanz der Wissenschaftspolitik von Bundestag und Bundesregierung
Direkt aus der Haushaltsdebatte im Bundestag in Berlin waren vier Bundestagsabgeordnete ins benachbarte Erkner geeilt: Wiebke Esdar (SPD), Martin Neumann (FDP), Petra Sitte (Die Linke) und Kai Gehring (Bündnis 90/Die Grünen). Die vom Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) vorgesehene Kürzung des Etats für Bildung und Forschung im Bundeshaushalt 2020 war dann auch eines der am hitzigsten diskutierten Themen der von GEW-Vize Andreas Keller moderierten Podiumsdiskussion zur Halbzeitbilanz der Wissenschaftspolitik von Bundestag und Bundesregierung. „Wäre nicht mehr für die BAföG-Reform oder die Hochschulpakt-Nachfolge drin gewesen?“, fragte er in die Runde hinein.
Das bejahten unisono Petra Sitte und Kai Gehring. Linke wie Grüne haben die Idee einer Strukturreform der Ausbildungsförderung nicht aufgeben – mit einer starken elternunabhängigen Komponente und einer insgesamt bedarfsdeckenden Förderung. Darüber hinaus macht sich Gehring für einen Hochschulsozialpakt stark, der auch einen Ausbau der sozialen Infrastruktur der Hochschulen von Wohnheimen bis Mensen sicherstellt, während Sitte einen Hochschuldigitalpakt nach dem Vorbild des Digitalpakts für die Schulen fordert. Heftigen Gegenwind erhielt Martin Neumann für das neue „Baukastenmodell“ der FDP für eine BAföG-Reform. Dieses sieht das zwar ebenfalls einen elternunabhängigen Sockel vor, fußt aber daneben auf verzinslichen Krediten. „Die Mehrzahl der Studierenden hätte am Ende weniger BAföG in der Tasche als heute, wenn es nach den Liberalen ginge“, kritisierte Gehring. Wiebke Esdar verteidigte den Haushaltsentwurf der Großen Koalition indes damit, dass viele BAföG-Berechtigte keinen Antrag stellen – die Mittel würden schlicht nicht abgerufen. Der Bund unterstütze daher eine BAföG-Werbekampagne des Deutschen Studentenwerks.
Umsetzung der Wissenschaftspakte in Bund und Ländern
Bei der Debatte um die im Juni von den Regierungschefinnen und Regierungschefs unterzeichneten Wissenschaftspakten sorgte Andreas Keller von vornherein dafür, dass sich die Politikerinnen und Politiker nicht aus der Verantwortung stehlen können: „Zukunftsvertrag Studium und Lehre, Programm Innovative Hochschule und Pakt für Forschung und Innovation sind gemeinsame Pakte von Bund und Ländern – und alle heute hier vertretenen Parteien regieren in Bund und Ländern mit“, stellte er klar und wollte dann wissen: „Wie konnte es zu der Schieflage zu Lasten der Lehre kommen? Und warum sorgen Bund und Länder nicht dafür, dass die Paktmittel für anständige Beschäftigungsbedingungen eingesetzt werden müssen?“
Sowohl Wiebke Esdar für die Große Koalition als auch die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition räumten ein, dass Studium und Lehre eine bessere Finanzierung verdient hätten. „Unverständlich, dass viele Projekte zur Verbesserung der Qualität der Lehre jetzt abgewickelt werden müssen“, kritisierte Kai Gehring. „Wir brauchen eine bessere Grundfinanzierung der Hochschulen“, forderte Petra Sitte. Martin Neumann prangerte die stiefmütterliche Behandlung der Fachhochschulen in den Bund-Länder-Programmen an. Esdar mahnte, dass nun die Länder bei der Umsetzung der Pakte für mehr Dauerstellen sorgen müssten.
Sitte und Gehring teilten auch die Enttäuschung der GEW über den Zeitplan für die geplante Evaluation des vor drei Jahren novellierten Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Das Gesetz selbst sieht eine Evaluation im Jahr 2020 vor. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat den Paragrafen nun so ausgelegt, dass die Evaluation 2020 starten soll, die Ergebnisse aber erst 2022 vorgelegt werden. „Damit soll ja wohl eine kritische Debatte über Zeitverträge in der Wissenschaft auf die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl verschoben werden“, provozierte Andreas Keller. Einzig Wiebke Esdar gab zu bedenken, dass ihr eine fundierte und aussagekräftige Evaluation lieber sei als ein Schnellschuss, während Martin Neumann, obwohl die FDP 2006 gar nicht im Bundestag vertreten war, es für unredlich hielt, das Gesetz im Nachhinein zu kritisieren.
„Kommt das Beste noch – oder war’s das schon?“, lautete das von der GEW ausgegebene Motto für die Podiumsdiskussion. Am Ende verständigten sich alle Beteiligten, egal ob aus Koalition oder Opposition, darauf, dass die Regierung in der Wissenschaftspolitik auf jeden Fall noch kräftig nachlegen müsse.
Faire Beschäftigungsbedingungen in Hochschule und Forschung
Eindrucksvolle Berichte von Arbeitskämpfen und Aktionen an Hochschulen im In- und Auslandland ermutigten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Aktivenkonferenz, sich weiter in und mit der GEW für faire Beschäftigungsbedingungen in der Wissenschaft einzusetzen. Aus London angereist war Rob Copeland als Vertreter der britischen Hochschulgewerkschaft UCU (University and College Union), mit der die GEW eng zusammenarbeitet. Copeland berichtete vom 14-tägigen Streik, den die britischen Hochschulbeschäftigten 2018 gegen geplante Rentenkürzungen durchgeführt hatten. Am Ende gaben sich die Arbeitgeber geschlagen und nahmen ihre Kürzungspläne vom Tisch. Entscheidend sei neben dem Einsatz der Kolleginnen und Kollegen die Sympathie der öffentlichen Meinung sowie die Solidarität der Studierenden gewesen, führte Copeland aus.
Ergänzt wurde das britische Best-Practice-Example durch Beispiele aus Deutschland. Anne Hüls vom Landesstudierendenausschuss der GEW Berlin legte den erfolgreichen Arbeitskampf der studentischen Beschäftigten an den Berliner Hochschulen für eine Verbesserung ihres Tarifvertrages dar. Berlin ist nach wie vor das einzige Bundesland, in dem auch studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tariflichen Schutz genießen. Anil Shah von der Universität Kassel zeigte auf, wie es GEW und ver.di mit der Initiative „Uni Kassel unbefristet!“ gelungen ist, die Hochschulleitung unter Druck zu setzen, per Dienstvereinbarung mit dem Personalrat das Befristungsunwesen einzudämmen.
Templiner Manifest und Wissenschaftspolitisches Programm revisited
Gemeinsam mit befreundeten Organisationen – von der Schwestergewerkschaft ver.di über den Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi), die Bundeskonferenz der Frauen und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof) und dem Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) bis hin zum freien zusammenschluss von student*innenschaften (fzs) – stellten die GEW-Aktiven in Erkner in einem weiteren Panel das Wissenschaftspolitische Programm auf den Prüfstand. Sind die GEW-Positionen auf der Höhe der Zeit? Wo müssen sie nachjustiert und weiterentwickelt werden, um auch im nächsten Jahrzehnt schlagkräftig zu sein?
Überraschend groß war am Ende die Übereinstimmung der Gäste, dass die GEW-Papiere auch nach zehn Jahren nicht nur die richtigen Fragen stellten, sondern auch die richtigen Antworten gäben. Neue Aspekte der Hochschulentwicklung, deren Bedeutung 2009/10 so noch nicht erkennbar waren, gälte es aber einzuarbeiten, etwa die Herausforderungen für die Hochschulbildung in der digitalen Welt. Auf der anderen Seite müssten Beschlüsse auch aktualisiert werden, wo sich die GEW durchsetzen konnte: „Anders als 2009 geht es nicht mehr darum, allgemeine Studiengebühren abzuschaffen, sondern die erkämpfte Gebührenfreiheit zu verteidigen – auch gegen die Salamitaktik mancher Politiker, das Bezahlstudium über Gebühren für Nicht-EU-Ausländer hoffähig zu machen“, sagte Torsten Bultmann vom BdWi.
Hochschule 2030
In zahlreichen Qualifizierungs- und Kreativ-Workshops machten sich die über 90 Aktivistinnen und Aktivisten aus Hochschulgruppen und Landesverbänden, Selbstverwaltungsgremien und Personalräten nicht nur für tagespolitische Herausforderungen vor Ort fit, sondern diskutierten auch Eckpunkte eines GEW-Reformmodells „Hochschule 2030“. Öffnung der Hochschulen, egalitäre Personalstruktur – die Vorschläge waren zum Teil sehr weitreichend. Auf der anderen Seite wurden auch viele Themen identifiziert, an denen die GEW mit ihren Forderungen präziser werden muss: Was genau ist eine Dauerstelle, was eigentlich Grundlagenforschung? Die Ergebnisse der Konferenz sollen auf den Sitzungen des GEW-Bundesfachgruppenausschusses Hochschule und Forschung sowie des Bundesausschusses der Studentinnen und Studenten in der GEW im Oktober in Bonn ausgewertet werden. Schon jetzt ist für Andreas Keller klar: „Wir haben Visionen, lassen uns aber dafür nicht zum Arzt schicken, wie es ein früherer Bundeskanzler geraten hätte. Wir überlegen uns stattdessen eine Strategie, wie wir den Visionen Schritt für Schritt näher kommen."