Große Anfrage der GAL enthüllt zunehmendes Befristungsunwesen und schamlose Ausbeutung von Wissenschaftler_innen an den Hamburger Hochschulen

Im November 2011 stellte die GAL-Bürgerschaftsfraktion eine Große Anfrage  zum Thema Traumjob Wissenschaft? Zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses an den Hamburger Hochschulen (Drucksache  20/2267 der Hamburgischen Bürgerschaft), in der detailliert nach der Personalentwicklung an den Hamburger Hochschulen gefragt wird.[1] Der Senat beantwortete die Fragen im Dezember 2012.[2]

Eine Analyse des umfangreichen Zahlenmaterials für die Universität Hamburg zeigt auf, dass es in den letzten fünf Jahren deutliche Veränderungen bei der Einstellungs- und Befristungspraxis der Beschäftigten gegeben hat. Darüber hinaus ist eine Zweiteilung des akademischen Mittelbaus zu beobachten, der aufzeigt, dass die so positiv bewertete ‚Einheit von Forschung und Lehre‘ unterhalb der Professur nicht mehr existent ist.

Verdopplung des Mittelbaus und Stagnation bei Professor_innen

Während von 2006 bis 2011 die Zahl der Professor_innen unverändert blieb und sich die Zahl der Juniorprofessor_innen auf niedrigem Niveau verdoppelte (von 33 auf 67 Stellen), hat der Mittelbau deutlich zugelegt und sich mehr als verdoppelt (von 2134 auf 3568 Stellen). Die Lehrverpflichtung wird somit immer weniger von Professor_innen und immer mehr von Beschäftigten im Mittelbau bewältigt, deren Verhältnis sich verschiebt: Kamen 2006 noch 4 wissenschaftliche Mitarbeiter_innen auf eine_n Professor_in, so liegt das Verhältnis 2011 bei 7:1. Neben dieser Verschiebung ist eine Entwicklung signifikant, die – trotz der Verabschiedung eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des akademischen Mittelbaus im Mai 2010 – die Zweiteilung des Mittelbaus in Mitarbeiter_innen mit ausschließlicher Lehr- oder mit ausschließlichem Forschungstätigkeit deutlich forciert (vgl. Tab. 1).

Zweiteilung des akademischen Mittelbaus: Trennung von Forschung und Lehre

Wie Abb. 1 zeigt, besteht der Mittelbau aus drei Stellentypen mit je spezifischer Funktion: Erstens gibt es Wissenschaftliche  Mitarbeiter_innen  für  die  Lehre  (WiMiLe, früher:  LfbAs), deren Verträge laut Lehrverpflichtungsverordnung eine Lehrverpflichtung von bis zu 16 Lehrveranstaltungsstunden bei einer Vollzeitstelle vorsehen und keinen Anteil für Forschung beinhalten, zweitens gibt es Wissenschaftliche  Mitarbeiter_innen  auf Doktorand_innenstellen  (WiMiDo, sog. „§28‐Stellen“[3]), die bei einer vollen Stelle bis zu 4 LVS beinhalten sowie drittens Wissenschaftliche  Mitarbeiter_innen  auf  (drittmittelfinanzierten)  Projektstellen (WiMiPro), die ausschließlich in der Forschung tätig sind. Allein die zahlenmäßig kleinste und am geringsten wachsende Kategorie der Doktorand_innenstellen (36 Prozent Zuwachs) sieht eine Verbindung von Forschung und Lehre vor; die zwei Personalkategorien, die entweder Forschung (WiMiPro) oder Lehre (WiMiLe) vorsehen, sind deutlich um 138 bzw. 48 Prozent gestiegen. Der geringe und zudem stagnierende Anteil von sonstigen Stellen im Mittelbau umfasst Dozent_innen, Assistent_innen, wissenschaftliche Räte u.a. – eine Personengruppe, die Forschung und Lehre unterhalb der Professur betreibt, jedoch auf einem niedrigen Niveau stagniert (Abb. 1).

Personalstruktur UHH

2006

2011

Veränderung in %

Gesamt

2687

4130

+ 53

Profs

520

495

- 5

Juniorprofs

33

67

+ 103

„Mittelbau“

2134

3568

+ 67

…WiMiLe

1011

1501

+ 48

…WiMiDo

480

653

+ 36

…WiMiPro

560

1330

+ 138

…Sonst.

83

84

+/- 0

Abbildung 1: Personalstruktur UUH 2006-2011 (Anlage 1, 7, 13 zu Drs. 20/2267)

 

Teilzeitbeschäftigung im Mittelbau stabil auf hohem Niveau, Doktorand_innenstellen immer in Teilzeit

In Teilzeit arbeiten ca. 60 Prozent der Beschäftigten im Mittelbau, wobei eine Tendenz zu beobachten ist, den Anteil der Vollzeitstellen bei den Drittmittelbeschäftigten auszubauen und bei den Mitarbeiter_innen mit ausschließlicher Lehrtätigkeit abzubauen. Alle Doktorand_innenstellen an der Universität sind als Teilzeitstellen vergeben (Abb. 2).

Teilzeit UHH

2006

2011

Veränderung

„Mittelbau“

61 %

63 %

+2 %

…WiMiLe

42 %

48 %

+ 6 %

…WiMiDo

Alle

Alle

+/- 0

…WiMiPro

70 %

66 %

- 4 %

…Sonst.

22 %

33 %

+ 11 %

Abbildung 2: Teilzeit UHH: Entwicklung 2006 – 2011 in Prozent (Anlage 1, 7, 13 zu Drs. 20/2267)

 

Prekärer Mittelbau: Zunehmendes Befristungsunwesen: 9 von 10 Kolleg_innen sind befristet tätig

Eine dramatische Entwicklung zeigt sich in Bezug auf die Befristung der Stellen im Mittelbau. Waren die Doktorand_innen- und die Projektstellen bereits in der Vergangenheit immer befristet, so stieg der prozentuale Anteil befristeter Stellen bei den Wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen für die Lehre von 58 auf 79 Prozent, so dass bezogen auf den Mittelbau insgesamt neun von zehn Kolleg_innen befristet beschäftigt sind (89 Prozent, Abb. 3).

 

Befristung UHH

2006

2011

Veränderung

„Mittelbau“

76 %

89 %

+ 13 %

…WiMiLe

58 %

79 %

+ 21 %

…WiMiDo

Alle

Alle

+/- 0

…WiMiPro

Alle

Alle

+/- 0

…Sonst.

1 %

15 %

+ 14 %

Abbildung 3: Befristung UHH: Entwicklung 2006 – 2011 in Prozent (Anlage 1, 7, 13 zu Drs. 20/2267)

In Bezug auf das zunehmende Befristungsunwesen wird in der Antwort des Senats lapidar festgestellt, dass die „relativ flexiblen Möglichkeiten für Befristungen […] aus den besonderen Gegebenheiten im Wissenschaftsbereich“ (Drs. 20/2267: 4) resultierten – ohne auszuführen, worin diese ‚besonderen Gegebenheiten‘ bestehen. Dreist ist die Behauptung, dass „Meldungen über eine sehr hohe Quote von Kurzzeitbefristungen im Bundesgebiet deutlich von den Daten der Hamburger Hochschulen abweichen“ (ebd.), da der Senat alle drittmittelfinanzierten Stellen aus seinen Berechnungen ausnimmt. Werden alle an der Universität Hamburg beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen einbezogen, so ergibt sich eine Befristungsquote von 89 Prozent und somit der aktuelle Bundesdurchschnitt. Immerhin „verfolgt der Senat die Entwicklung der Befristungspraxis kritisch“ (ebd.).

Unbezahlte Lehraufträge: Schamlose Ausbeutung von Nachwuchswissenschaftler_innen

Die Lehre wird neben den Professor_innen und dem Mittelbau auch von einer zunehmend größer werden Gruppe von Lehrbeauftragten getragen, die in gar keinem Arbeitsverhältnis mit der Universität stehen, sondern einen „besoldeten oder unbesoldeten“ (Anlage 31 zur Drs. 20/2267) Lehrauftrag ausführen. Deren Anteil an der Lehrverpflichtung der Universität insgesamt wird für 2011 mit 12 Prozent angegeben. In den fünf erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen leisteten die insgesamt 56 Lehrbeauftragten 22 Prozent der gesamten Lehrverpflichtung, womit ein Fünftel aller Lehrveranstaltungen un- bzw. unterbezahlt und ohne eine Anstellung bzw. Mitgliedschaft an der Universität erbracht wurde (Anlage 46 zu Drs. 20/2267).

Diskussion um strukturierte Doktorand_innenbetreuung: ‚Graduiertenschulen‘ mit Pflichtanteil unentgeltliche Lehre?

Viele Doktorand_innen ohne Stelle leisten einen un- bzw. unterbezahlten Lehrauftrag – parallel hierzu wird an der Universität aktuell die Einführung einer strukturierten Doktorand_innenbetreuung diskutiert. Einige der diskutierten Modelle sehen vor, in der Doktorand_innenbetreuung einen unentgeltlichen Lehranteil verpflichtend zu verankern und eine ‚Graduiertenschule‘ zu schaffen, deren Zugang durch Aufnahmeprüfungen reglementiert wird.[4] Noch ist diese Entwicklung unabgeschlossen, wird aber von Seiten der Politik wie auch des Präsidiums und der Dekanate der Universität entschieden vorangetrieben.

Forderungen der GEW: Für eine Reform von Personalstruktur und Berufswegen

Im Templiner Manifest stellt die GEW Eckpunkte für eine Reform von Personalstruktur und Berufswegen in Hochschule und Forschung auf.[5] Gefordert wird, die Promotionsphase besser abzusichern und zu strukturieren, Postdocs verlässliche Perspektiven zu geben sowie, prekäre durch reguläre Beschäftigung zu ersetzen. Vorschläge und Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der wissenschaftlich Beschäftigten an den Hamburger Hochschulen sollten diesen Eckpunkten folgen und sie konkretisieren.[6]

Wissenschaftliche  Mitarbeiter_innen  für  die  Lehre müssen längere Befristungszeiträume erhalten,[7] zudem sollten alle Stellen, auf denen Daueraufgaben verrichtet werden, entfristet und mehr Vollzeitstellen geschaffen werden. Darüber hinaus ist ein Zeitanteil für eigene Forschung und Weiterbildung und eine Verringerung der Lehrverpflichtung (16 LVS bei Vollzeitstelle) zu fordern, um der Trennung von Forschung und Lehre vorzubeugen, aber auch, um die Flexibilität dieser Stellen zu erhöhen und sie attraktiver zu gestalten.

Wissenschaftliche  Mitarbeiter_innen  auf  (drittmittelfinanzierten)  Projektstellen müssen Vertragslaufzeiten erhalten, die sich mindestens an der jeweiligen Projektdauer orientieren, um eine relative Sicherheit des Arbeitsplatzes mindestens für diesen Zeitraum zu gewährleisten. Mittlerweile sind viele drittmittelgeförderte Forschungsprojekte auf Dauer angelegt, so dass auch hier eine Entfristung von Stellen vorgenommen werden könnte. Den Mitarbeiter_innen sollte möglich sein, bei Interesse Lehrveranstaltungen anzubieten, die auf ihre Arbeitszeit angerechnet werden, um so der zunehmenden Trennung von Forschung und Lehre vorzubeugen.

Lehraufträge sollten grundsätzlich bezahlt erfolgen, wobei der aktuelle ‚Dumpingpreis‘ einer mittleren dreistelligen Summe zum Ende des Semesters nicht einmal eine Aufwandsentschädigung für die geleistete Arbeit darstellt. Es müssen mehr Stellen im Mittelbau geschaffen werden und die Kategorie der Lehrbeauftragten ‚rückverwandelt‘ werden in ihre ursprüngliche Funktion: Vertreter_innen aus der beruflichen Praxis lehren neben dem Beruf – nicht neben der Arbeitslosigkeit.

Für Promovierende müssen deutlich mehr Doktorand_innenstellen ausgeschrieben werden, gleichzeitig müssen mehr Vollzeitstellen geschaffen werden, um die Arbeit am Forschungsgegenstand als Vollzeit- und nicht nur als Teilzeitbeschäftigung betreiben zu können. Die Einführung einer strukturierten Doktorand_innenbetreuung ist zu begrüßen, jedoch nicht in Form einer ‚Graduiertenschule‘ mit Auswahlverfahren und Pflichtanteil Lehre, sondern als Graduiertenzentrum mit freiwilligen Qualifizierungsangeboten für alle Promovierenden.[8]

GEW fordert Senat auf, Maßnahmen zur Verbesserung der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses in Hamburg einzuleiten

In der Antwort auf die Anfrage stellt der Senat fest, dass im Zuge „einer von der zuständigen Behörde beabsichtigten Bestandsaufnahme zur Frage nach prekärer Beschäftigung an den Hamburger Hochschulen […] insbesondere dem Aspekt kurzzeitiger Befristungen verstärkt nachgegangen [werde]. Sollte sich Handlungsbedarf ergeben, wird der Senat geeignete Maßnahmen ergreifen“ (Drs. 20/2267: 4). Der Handlungsbedarf ist enorm und die GEW fordert den Senat auf, die dringend erforderliche Reform von Personalstruktur und Berufswegen einzuleiten und dem zunehmenden Befristungsunwesen und der schamlosen Ausbeutung von Wissenschaftler_innen ein Ende zu setzen. So heißt es im Regierungsprogramm der SPD unter dem Titel „Neuanfang in der Wissenschaftspolitik“: „Wir wollen die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse beim wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Personal einschränken.“ Die nun vorliegenden Zahlen belegen den Reformdruck.

 

Fredrik Dehnerdt, Sprecher FG Hochschule und Forschung und 2. stellv. Vorsitzender

[1] www.gal-fraktion.de/dokument/25-11-2011/202267-traumjob-wissenschaft

[2] www.buergerschaft-hh.de/parldok/

[3] Diese Beschreibung bezieht sich auf §28 Satz 1des Hamburgischen Hochschulgesetzes (HmbHG).

[4] So im “Diskussionspapier zur Konzeption einer Graduiertenschule der Fakultät Erziehungswissenschaft, Psychologie und  Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg“ vom 17. April 2011.

[5] www.templiner-manifest.de, siehe hierzu auch hlz 8-9/2011: 28-31

[6] Zur Finanzierung der Maßnahmen siehe hlz 12/2011: 15-18

[7] Zur Laufzeit befristeter Verträge siehe hlz 10-11/2011: 26-27

[8] Siehe hierzu das GEW-Positionspapier „Baustelle Promotion – Ein Haus braucht ein Dach“ (www.gew.de/Binaries/Binary72695/Promotion%20Brennpunkt.pdf)