Am Sonnabend, 7. Oktober, hat auf Kampnagel in Halle k1 eine von der GEW Hamburg mitorganisierte ganztägige Konferenz stattgefunden: „70 Jahre Kriegsende. 20 Jahre Wehrmachtsausstellung. Das Ende der Legende und die neuen Legenden“. Veranstalter waren zudem die Evangelische Akademie der Nordkirche, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme sowie die Kulturfabrik Kampnagel.
Der Themenstruktur entsprechend, ging es um zweifaches Erinnern, das an den Zweiten Weltkrieg und das an die im März 1995 zum ersten Mal gezeigte Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Den Zusammenhang zwischen beidem spricht der kleingedruckte erläuternde Zusatz zum Konferenz-Thema an: Die vom Hamburger Institut für Sozialforschung realisierte und von Hannes Heer kuratierte Ausstellung hat eine weitere dunkle Seite des Zweiten Weltkriegs aufgedeckt, die bis dahin durch die Legende von der sauberen Wehrmacht verleugnet worden war, eine Legende, die sich auch nach der Ausstellung als Kritik an ihr in abgeschwächten revisionistischen wissenschaftlichen Varianten zu erhalten versucht. Filme mit sehr hohen Einschaltquoten, „Der Untergang“ (2004) und „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013), blenden den systematischen Charakter des Verbrechens der Wehrmacht aus.
Schon das Einführungsreferat von Hannes Heer und der Kommentar von Prof. Matthias Rogg, Direktor des Militärhistorischen Museums Dresden, vormals Bundeswehr-Akademie Hamburg, haben sich auf diesen Zusammenhang bezogen. Die Konferenz ist ihm und unter dem Gesichtspunkt von drei Themeneinheiten (auf Konferenz- Deutsch: Panels) nachgegangen.
Die erinnerungsgeschichtliche Relevanz der Ausstellung war al- lein durch das gemeinsame Auf- treten der ersten beiden Referenten, Heer und Rogg, sozusagen in persona dargestellt. Vor zwanzig Jahren hatte die Bundeswehr den Kurator förmlich im Visier. Per Befehl war es verboten, die Ausstellung zu besuchen, jeden- falls nicht in Uniform. Heute dagegen stimmte ein in Sachen Geschichtsbetrachtung maßgeblicher Vertreter der Bundeswehr den Ausführungen Heers im Großen und Ganzen zu. (Neben- bei bemerkt war der Professor in Uniform dennoch irgendwie eine disparate Erscheinung, so, als stünde die Alma Mater dort im Waffenrock am Pult.)
Diese frappierende Kehrtwende der Bundeswehr demonstrierte exemplarisch einen ersten Einblick, welchen die nachfolgenden Referate zu den Panels vertieften: Mit der Wehrmachtsausstellung vollzog sich eine bahnbrechende Weichenstellung in der Aufarbeitung der NS- Vergangenheit. Erinnerungsgeschichtlich war sie ein Ereignis von historischer Dimension. Sowohl hinsichtlich ihrer Aufnahme in der Öffentlichkeit – in vierunddreißig Städten gezeigt, haben eine Million Besucher_innen sie gesehen – als auch hin- sichtlich der Geschichtswissenschaft. Dort hat sie eine Debatte ausgelöst, dank welcher nun erst überhaupt mit militärgeschichtlicher Forschung gründlich begonnen wurde. Allerdings, und das ist der zweite Einblick, stieß die Wehrmachtsausstellung in beiderlei Hinsicht auch auf heftige Ablehnung und ortsweise auf erbitterten Widerstand, von Gegendemonstrationen und Boykott-Aufrufen bis hin zu einem glücklicherweise nur relativ geringen Schaden verursachenden Bombenanschlag in Saarbrücken. Das öffentliche Für und Wider erreichte sogar den Bundestag. Es ist bisher einmalig, dass dort über eine Ausstellung gestritten wurde. In der Wissenschaft übernahm vor allem das Münchener Institut für Zeitgeschichte den Part des Gegenspielers. In der Hauptsache ohne Erfolg. Die Legende von der sauberen Wehrmacht blieb widerlegt. Immerhin gelang es den Kritikern, die Fotodokumente in Frage zu stellen. Sie schlugen Alarm. Der Leiter des Hamburger Instituts, Jan Philipp Reemtsma, sah sich genötigt, ein mit namhaften Historikern besetztes Kuratorium einzuberufen. Das Ergebnis: Nur zwei Fotos von hunderten waren falsch recherchiert. Gleichwohl, die Vorwürfe waren in der Welt. Sie erreichten die Politik. Die machte Druck. Denn inzwischen hatte sich in den USA starkes Interesse an der Ausstellung ge- zeigt. Die Planungen einer US- amerikanischen Version waren nahezu abgeschlossen. Die Bundesrepublik wollte nicht zulassen, dass das Bild der Deutschen im Ausland durch einen weiteren schwer wiegenden Aspekt ihrer Schuld erneut zum Thema wird. Das Außenministerium intervenierte. Reemtsma gab schließlich dem Druck nach und zog die Ausstellung zurück. Sie wurde durch eine „entschärfte“ ersetzt. Alle „Landser“-Fotos, auf denen vor allem die Wirkung der ersten Ausstellung beruhte, wurden entfernt, weil sie nunmehr nicht als justiziable Foto-Dokumente galten, also nicht mit genauer Orts-, Zeit- und Personenangabe versehen waren. Auch der Kurator wurde ersetzt. Der Vorgang zeigt, – das war der dritte Einblick –, dass in spannungsvollen kollektiven Erinnerungsprozessen immer auch Politik, in diesem Fall in unrühmlicher Weise, ein maßgeblicher Wirkfaktor ist.
So wenig die mit den Verbrechen der Wehrmacht verbundene moralische Schuld ganz abgetragen werden kann, so sehr ist es moralisch geboten, da sie aus Taten hervorgegangen ist, sie mit Taten wenigstens teilweise wie- der gut zu machen. Im konkreten Fall heißt das, Reparationsforderungen nachzukommen. Der Nachweis, dass dies nicht nur nicht erfolgt ist, sondern entsprechende Gerichtsverfahren wie in Griechenland und Italien von der Bundesrepublik teilweise mit Ranküne hintertrieben wurden und werden, dieser Nachweis führte zur vierten, wegen seiner Aktualität vielleicht bedenklichsten Einsicht. Die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke hat ihn erbracht, indem sie von ihren Erfahrungen mit solchen Prozessen berichtete.
In diesem Kontext ist auch daran zu erinnern, dass im Zuge des Vernichtungskriegs im Osten auch Sinti und Roma in großer Zahl den genozidalen Massakern zum Opfer fielen, also diejenigen, deren Nachkommen heute aus der Bundesrepublik uneingedenk dieser einstmaligen Verbrechen an ihren Vorfahren abgeschoben oder als Asylsuchende abgewiesen werden. Aber das ist bereits einer der Nachgedanken zum Gehörten, mit denen die Teilnehmer_innen an der Konferenz wohl noch beschäftigt sein mögen. Denn auch nach ihrem Ende hat sie nicht losgelassen – obwohl es trotz einer Mittagspause mit Imbiss anstrengend war, von zehn bis siebzehn Uhr allen Referaten und der Abschlussdiskussion konzentriert zu folgen.
Jörg Petersen