Die BG Ruheständlerinnen und Ruheständler der GEW Hamburg möchte mit dem vorliegenden Beitrag erreichen, dass das Schicksal der 999-er Strafsoldaten für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich wird. Es ist höchste Zeit dafür, nicht zuletzt, weil bereits eine neue Ära angebrochen ist, die unaufhaltsam alle gesellschaftlichen Kräfte im Kampf gegen Flüchtlingselend und Zerstörung im Nahen Osten fordert. Es geht also um ein Stück Vergangenheitsbewältigung, das bisher noch nicht geleistet wurde. Das ist ein nationales, aber auch ein Hamburger Problem, da etwa 2000 Strafsoldaten vom Hannoverschen Bahnhof (Hafencity) aus deportiert wurden.
Zur Erklärung: Die Strafdivision 999 ist ein im Oktober 1942 aufgestellter Sonderverband der deutschen Wehrmacht, in den durch ziviles oder militärisches Urteil für wehrunwürdig Befundene auf Dauer des Krieges als „bedingt wehrwürdig“ eingestuft wurden. Das war alles andere als eine großzügige Geste der Machthaber, sondern Reaktion auf eine Notlage. Die Kämpfe im Osten, allen voran die um Stalingrad, waren bekanntlich so verlustreich, dass man sich nunmehr auch der vom System Ausgegrenzten zu bedienen gedachte.
Die Strafsoldaten sollten als Kanonenfutter an der Front dienen. So konnte man sich zu- gleich auf einfache Weise missliebiger Elemente entledigen. Die Division umfasste deutschlandweit etwa 28.000 Mann und zusätzlich ca. 9.000 zum Stammpersonal der Wehrmacht gehörende Militärangehörige. Die Rekrutierten bestanden zu ca. 70 Prozent (oder vielleicht 60 Prozent) aus landläufigen Kriminellen und zu ca. 30 Prozent (bis vielleicht 40 Prozent) aus politisch Verurteilten. Diese absichtliche Gleichsetzung zeigt ein weiteres Mal die Gewissenlosigkeit der einstigen Machthaber im Umgang mit Menschen. Hinzu kommt, dass im „1000-jährigen Reich“ eine eigene Rechtsauslegung an der Tagesordnung war und Rechtsprechung vielfach zur Willkür verkam, insbesondere wenn politische Aspekte eine Rolle spielten. Insgesamt ist die 999-er Division ein sehr heterogener Sonderverband, in dessen Einzelformationen eben durch absichtliche Mischung von politisch Missliebigen und Kriminellen solidarisches Handeln der Soldaten untereinander außerordentlich erschwert wurde.
Der erste Einsatz der Sondertruppe erfolgte im Frühjahr 1943 in Tunesien, wo die meisten umkamen. Nur wenigen gelang es, zu den alliierten Truppen zu desertieren. Von der Ostfront, wo sie danach eingesetzt waren, wurden sie bald zurückgerufen, da erhebliche Teile zur Roten Armee überliefen. Schließlich entwickelte sich aus den Reihen der 999-er in Griechenland und in Jugoslawien ein aktiver Widerstand.
Um Genaueres über die v Hamburg aus Deportierten zu er- fahren, war Ursula Suhling vom Vorstand der BG Ruheständlerinnen und Ruheständler am 7. Oktober 2015 gebeten worden, als Expertin über diese Gruppe und über ihr eigenes Schicksal zu berichten. Ursula Suhling kämpft mit ihrem Buch für die Anerkennung der etwa 2000 vom Hannoverschen Bahnhof aus deportierten Strafsoldaten als Opfergruppe. Sie möchte, dass die am Lohseplatz geplante Gedenkstätte neben Juden, Sinti und Roma auch die Strafsoldaten nennt.
Ursula Suhling, Jahrgang 1933, ist die Tochter eines Hamburger Strafsoldaten; sie kam 1938 ins Waisenhaus, nachdem ihre Eltern zum wiederholten Male verhaftet worden waren. Ihnen wurde illegaler Wider- stand gegen das NS-System vorgeworfen. Die 82-jährige empfindet auch heute noch die Behandlung ihrer Eltern als Beschmutzung. Deren Verhalten wurde als schändlich klassifiziert, und die Ausgrenzung hielt auch noch Jahrzehnte nach dem Krieg an. Nach eigener Aussage hat sie in ihrem Leben Stück für Stück bis heute diese traumatische Erfahrung aufgearbeitet.
Der Vater wurde 1943 nach einer militärischen Ausbildungs- zeit in der speziell für künftige Strafsoldaten eingerichteten Ausbildungsstätte Heuberg (gelegen in Baden) eingezogen, um an der Dnjepr-Front gegen die Rote Armee als Kanonenfutter zu fungieren. Wegen zahlreicher Überläufer zu den Sowjets wurden die Strafsoldaten abgezogen, und der Vater kam nach Griechenland. Kurz vor Ende des Krieges wurde er Anfang 1945 vor Sarajewo möglicherweise von einem jugoslawischen Partisanen erschossen. Die Mutter ist 1981 gestorben.
Ursula Suhling lebte von 1961 bis 1989 in der DDR, ab 1989 in Hamburg. Seit vielen Jahren hat sie sich für die Rehabilitierung der Hamburger Strafsoldaten eingesetzt, bisher ohne durch- schlagenden Erfolg. Allerdings dringt das Thema allmählich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Aufarbeitung muss jetzt ermöglicht und damit das Trauma vieler Familien durch Rehabilitierung und Würdigung der Einzelschicksale bewältigt werden.
Die Landeszentrale für politische Bildung hält Suhlings Buch vor, das mehr als 400 Namen und Daten von – ab Hannoverschem Bahnhof deportierten – 999-er Strafsoldaten nennt. Es sind im Wesentlichen Gegner des Faschismus. Das Buch enthält im Anhang auch Literatur zum The- ma Strafsoldaten.
Die Kulturbehörde hat sich aber noch nicht für Rehabilitierung eingesetzt. Die Vorsitzen- den der GEW Hamburg werden sich an die Kultursenatorin wen- den, dafür hat sich die BG Ruheständlerinnen und Ruheständler in einem Antrag eingesetzt. Die 2000 Hamburger Strafsoldaten sollten unserer Meinung nach auf der Gedenktafel am Lohseplatz Erwähnung finden und im Informationszentrum namentlich festgehalten werden. Dafür sind noch ausgiebige Recherchen notwendig, die von Schulen und auch von der Universität geleis- tet werden könnten, meinen wir. Bei den verworrenen Lebensläufen der 999-er Strafsoldaten wird voraussichtlich Vieles im Dunkel bleiben, aber Einiges wird durch Briefe und mündliche Aussagen auch noch zu heben sein.
Die 999-er Strafsoldaten mussten ein Leben in vollkommener Unsicherheit und Bindungslosigkeit führen. Das macht die Tragik ihrer Existenz aus.
Heike Bethke, Jutta Jeansch, Manfred Klingele, Jutta Staack, Bettina Wehner