Bei der 1.-Mai Kundgebung in Harburg redete u.a. Wolfgang Brandt, DGB-Vorstand Harburg und GEW-Mitglied. Seine Rede geben wir gerne wieder:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Harburgerinnen und Harburger,
Eine Demokratie funktioniert nur, wenn eine große Mehrheit der Bevölkerung spürt, dass ihre Lebensgrundlagen aktuell gesichert sind und in der Zukunft Verbesserungen, keinesfalls aber Verschlechterungen zu erwarten sind. Das gilt für die Einkommensverhältnisse, aber ebenso für gesicherte Perspektiven in der Arbeitswelt und später im Ruhestand. Das in unserem Grundgesetz verankerte Prinzip „Soziale Marktwirtschaft“ wurde maßgeblich von den Gewerkschaften ausgestaltet und zwar durch politische Lobbyarbeit aber auch durch Arbeitskämpfe. Der monatelange Streik der IG-Metall in Schleswig-Holstein im Winter 1956 führte schließlich zur gesetzlich abgesicherten sechswöchigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. (Heute hört man aus CDU-Kreisen, der 1. Krankheitstag sollte als Karenztag eingeführt werden). Weitere Meilensteine auf dem Weg zur Demokratisierung der Arbeitswelt waren die Gesetze zur Mitbestimmung in Betrieben und Dienststellen durch Betriebs- und Personalräte sowie Mitbestimmungsrechte auf Konzernebene in Aufsichtsräten. Über Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe sichern die Gewerkschaften damals wie heute die Teilhabe der Beschäftigten am gesellschaftlichen Wohlstand.
In den 70-er und 80-er Jahren kamen zunächst in England und den USA neoliberale Ökonomen ans Ruder. Was heißt neoliberal? Das ist der Versuch, die unternehmerischen Risiken der Globalisierung, des globalen Wettbewerbs möglichst komplett auf die Beschäftigten zu übertragen.
Die neuen Ziele der Wirtschaftspolitik, die zuerst in England unter Margret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan verwirklicht wurden, lauteten: Privatisierung, Deregulierung, Flexibilisierung. Außerdem ging es Margret Thatcher um die Entmachtung und Zerschlagung der britischen Gewerkschaften.
Während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, die von einer Koalition aus SPD und Grünen gestützt wurde, begann die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auch in der Bundesrepublik Deutschland. Die maßgeblich von der Bertelsmann-Stiftung entwickelte Strategie der Regierung gegen steigende Arbeitslosigkeit war das Programm der sogenannten „Agenda 2010“. In der Hoffnung, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, wurden Gesetze beschlossen, die die Kapitalseite stärkten und die Arbeitnehmerseite schwächten und damit die Grundlage schufen, den gesellschaftlichen Reichtum massiv von unten nach oben umzuverteilen. Auch wenn heute die Politik der Agenda 2010 meist kritisch gesehen wird, ist der damals vollzogene Kurswechsel von sozialer Marktwirtschaft zu Marktradikalität und zum Abbau des Sozialstaats immer noch deutlich wirksam.
Unter dem Leitbegriff „Privatisierung“ zog sich der Staat aus der unternehmerischen Leitung wesentlicher öffentlicher Aufgaben zurück. Z.B durch die Privatisierung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen meist gegen den Willen der Beschäftigten und der Bevölkerung.
Mit dem schönfärberischen Begriff „Deregulierung“, was soviel heißt wie Rücknahme bestehender gesetzlicher Vorschriften, wurde der Abbau von Arbeitnehmerrechten legal, und das wirkt bis heute. Wir sollten deshalb misstrauisch sein, wenn gegenwärtig in Koalitionsverhandlungen gern von Abbau der Bürokratie geredet wird. Viele gesetzliche Regelungen sind unverzichtbare Schutzbestimmungen, und der Staat braucht dringend mehr Personal, um die Einhaltung wichtiger Gesetze und Verordnungen durchzusetzen. Wir sehen, was uns die Deregulierung gebracht hat: Arbeitgeberverbände erlauben ihren Mitglieder eine Mitgliedschaft „ohne Tarifbindung“. Dieser Skandal führte und führt zu einer Tarifflucht vieler Unternehmen und verschlechtert massiv die Einkünfte und Rahmenbedingungen der Beschäftigten in diesen Betrieben. Und damit noch nicht genug: Betriebsräte geraten unter Druck von Anwaltskanzleien, die im Auftrag von Unternehmen die ehrenamtlichen Betriebsräte permanent nerven und zermürben sollen. Ebenso behindern sie Wahlvorstände oder versuchen sie einzuschüchtern. Solche kriminellen Machenschaften müssen endlich gestoppt werden !
Was bedeutet nun „Flexibilisierung der Arbeitswelt“ in der Praxis ? Es ist letztlich der Versuch, das Prinzip „hire and fire“ zu legalisieren und durchzusetzen. Viele Arbeitsverträge werden nur befristet angeboten. Manche Beschäftigte warten über viele Jahre immer wieder in Sorge auf die Verlängerung ihres Vertrags. Sie arbeiten in dauerhafter Probezeit. Lebensplanung ist kaum möglich. Niedriglöhne greifen um sich. Deutschland ist europaweit das Land mit dem größten Niedriglohnsektor. Hinzu kommt der Einsatz von Leiharbeitskräften vor allem in Großbetrieben. Dort arbeiten Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter als Beschäftigte zweiter Klasse. Manche Subunternehmer rekrutieren Arbeitskräfte aus armen EU-Ländern und lassen sie zu Billiglöhnen ohne soziale Absicherung arbeiten. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Betriebe, die ihre Beschäftigten so extrem ausbeuten, dürfen keine öffentlichen Aufträge mehr bekommen.
Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verlieren ihren Arbeitsplatz durch Strukturwandel oder sind Opfer von De-Industrialisierung, von der Verlagerung industrieller Arbeitsplätze in Billiglohnländer. In bestimmten Regionen finden sich ehemalige Fachkräfte nach solchen Prozessen entweder in der Arbeitslosigkeit oder in schlechter bezahlten Dienstleistungsberufen wieder. Alles das führt zu Enttäuschungen, Zukunftsängsten, zu Entsolidarisierung und Politikverdrossenheit. Und genau das gefährdet eine demokratische Gesellschaft ! Die Einen nehmen nicht mehr an Wahlen teil, die Anderen wählen eine Partei, von der sie glauben, sie sei eine Alternative. Aber diese Partei ist keine Alternative, sie ist rechtsradikal und in Teilen faschistisch, und deshalb gehört sie verboten! Sie hat außerdem ein Wirtschaftsprogramm, in dem Arbeitnehmerrechte geschwächt und die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben gefördert wird. Wir müssen als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter dringend etwas dafür tun, dass wir die Menschen, die aus Protest die AfD wählen, wieder zurückgewinnen. Dazu gehört Überzeugungsarbeit in Betrieben und in der Freizeit. Vor allem braucht es aber Maßnahmen, die prekäre Arbeitsbedingungen verhindern und gute, zukunftssichere Arbeitsplätze schaffen. Wichtig sind deshalb staatlich geförderte Investitionen in der zivilen Wirtschaft und eine Reform der Schuldenbremse. Die von den künftigen Regierungsparteien vereinbarten Milliarden müssen jetzt dahin fließen, wo sie dringend benötigt werden: in die Schienen, Schulen, den Wohnungsbau, die soziale Sicherung, die Digitalisierung und den Klimaschutz. Wir brauchen aber keine grenzenlose staatliche Finanzierung von militärischer Aufrüstung. Das gefährdet den Frieden und nützt nur den Aktionären der Rüstungsindustrie, nicht aber der Konjunktur. Denn Konsumenten kaufen keine Panzer.
Staatliche Aufträge für Infrastrukturprojekte dürfen in Zukunft nur an Unternehmen vergeben werden, die Tariflöhne zahlen und Tarifverträge akzeptieren. Wir fordern deshalb einen nationalen Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung und ein Bundestariftreuegesetz.
Damit wieder mehr Beschäftigte von guten Tarifverträgen profitieren, die von starken Gewerkschaften ausgehandelt werden. Damit sie endlich mehr Lohn bekommen und zu fairen Bedingungen arbeiten. Für die Kolleginnen und Kollegen aus Betrieben, in denen es keine Tarifverträge gibt, fordern wir einen gesetzlich garantierten armutsfesten Mindestlohn als untere Haltelinie. Das ist besonders wichtig, weil die hohe Inflationsrate der vergangenen Jahre zu einer Explosion der Mieten und der Lebensmittelpreise geführt hat.
Mach dich stark für faire Arbeitszeiten und einen starken Sozialstaat!
Heute am 1. Mai erinnern wir auf vielen Kundgebungen auch an die tödlichen Schüsse auf Gewerkschafter, die am 1. Mai 1886 in Chicago auf dem Haymarket für den 8-Stunden-Tag streikten. Den Acht-Stunden-Tag, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, stabile Renten und einen starken Sozialstaat haben wir Gewerkschaften solidarisch erkämpft, und wir werden diese Errungenschaften verteidigen! Faire Arbeitszeiten, die zum Leben passen, sind für uns nicht verhandelbar. Wer krank ist, muss sich auskurieren können. Die Beschäftigten haben eine gute und sichere Rente verdient. Das Rentenniveau muss bei 48 Prozent stabilisiert und langfristig erhöht werden.
Mach dich stark für gerechte Steuern! Wir stehen für ein gerechtes Steuersystem. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die für ihr Geld arbeiten, dürfen nicht höher besteuert werden als diejenigen, die nur ihr Geld für sich arbeiten lassen. Nach Jahrzehnten wachsender Vermögen ist eine angemessene und gerechte Beteiligung von Spitzenverdienern an der Finanzierung staatlicher Aufgaben überfällig. Es ist höchste Zeit, die Vermögensteuer wieder einzuführen und eine Erbschaftsteuer ohne Sonderregelungen für reiche Unternehmenserben auf den Weg zu bringen. Reiche und Superreiche müssen ihren fairen Beitrag leisten, um den Haushalt zukunftsfest zu gestalten und die Daseinsvorsorge zu sichern.
Aber was wäre eine Diskussion über Daseinsvorsorge wert ohne ein Leben in Frieden? Wir feiern im Jahr 2025 das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Gründung der Vereinten Nationen vor 80 Jahren. Vor 50 Jahren – mitten im Ost-West-Konflikt – unterzeichneten 35 Staaten des West- und Ostblocks die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki.
Diese Ereignisse waren wegweisend. Ziel war es, eine Logik zu durchbrechen, in der gegnerische Großmachtinteressen über das Schicksal der internationalen Staatengemeinschaft und das Leben von Millionen bestimmen. Stattdessen sollten die Gleichheit und Unverletzlichkeit von Grenzen, die Selbstbestimmung der Völker, die freie Bündniswahl, die gegenseitige Vertrauensbildung, der Gewaltverzicht, die friedliche Streitbeilegung und die Achtung der Menschenrechte gelten. Ein Blick auf die heutige internationale Lage zeigt jedoch: All diese Prinzipien werden grundsätzlich in Frage gestellt. Die Fundamente der Weltordnung der Nachkriegszeit sind brüchig geworden. Die NATO hat sich weiter nach Osten ausgedehnt. Aus Partnern werden Feinde. Abrüstungsverträge wurden aufgekündigt. In immer mehr Ländern übernehmen Autokraten, Rechtsextreme und Rechtspopulisten das Ruder. Sie befeuern ein Weltbild, das nur noch aus Bedrohungen und neuen Feindbildern besteht; ein Weltbild, das dauerhaftem Frieden und Sicherheit im Weg steht. Wir erleben einen Rückfall hin zu militärischen Konfrontationen und ein trauriges Comeback von kriegerischen Angriffen auf souveräne Staaten, so wie bei dem völkerrechtswidrigen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Es droht eine Neuaufteilung der Welt zwischen den drei Großmachtkonkurrenten USA, China und Russland. In diesem Prozess versuchen die Beteiligten, ihre Interessen mit Druck, Erpressung und Krieg durchzusetzen. Demokratie und Menschenrechte werden vielfach mit Füßen getreten und systematisch zurückgedrängt. Deutschland hat sich deshalb zu Verteidigungszwecken für eine Lockerung der Schuldenbremse entschieden. Problematisch ist dabei, dass es nach oben keine Grenzen mehr für Verteidigungsausgaben gibt. Es wäre völlig falsch, jetzt in eine Spirale der blinden Militarisierung einzusteigen. Einer grenzenlosen Aufrüstungsspirale erteilen wir eine Absage! Geld für Verteidigung aus den Töpfen für soziale Leistungen oder dringend nötige Investitionen für die Zukunft zu nehmen, lehnen wir entschieden ab, denn das würde einer sozial-gerechten und demokratischen Gesellschaft schaden. Die EU-Staaten müssen sich für echte Friedenssicherung, für mehr Diplomatie starkmachen. Als Organisation der arbeitenden Menschen wissen wir: Soziale Gerechtigkeit und Frieden sind untrennbar miteinander verknüpft.
Heute ist der Tag, an dem viele unserer 5,6 Millionen im DGB organisierten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter überall in Deutschland auf die Straße gehen und ihre Stärke demonstrieren. Lasst uns deshalb jetzt auch zusammen feiern mit Musik und guten Gesprächen.