Eine Würdigung des langjährigen GEW-Bundesvorsitzenden Dieter Wunder (1981 – 1997) und Mitglieds der GEW Hamburg zu seinem 80. Geburtstag durch Prof. Rolf Wernstedt, ehemaliger niedersächsischer Kultusminister (1990 – 1998)
Dies ist nicht der Ort, biografische Vollständigkeit darzustellen. Mir kommt es darauf an, nachzuvollziehen, welche professionellen und politischen, in diesem Fall auch bildungspolitisch- gewerkschaftlichen Positionen ein Mann vertreten hat, der sich seit den 1950er-Jahren als links versteht. Der sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) engagiert hat, aus der SPD ausgeschlossen wurde (1978 wieder eintrat), eigentlich ein Vor-68er war und ein selbstreflexives und nachdenklich linkes Verständnis bis heute pflegt.
Dieter Wunder hat sich seit seinem Geschichts- und Germanistikstudium in Göttingen und Hamburg für mittelalterliche Sprachbesonderheiten interessiert, aber auch für Fragestellungen, die der deutschen Vergangenheit und ihrer sogenannten Aufarbeitung galten. Für den Pädagogen ergab sich daraus in jeder Phase seines professionellen Lebens, die Chancen aller Schülerinnen und Schüler auf Bildung und Aufklärung auch im Sinne von Fragen zu eröffnen, die nicht nur den formalen Abschlüssen, sondern der Entwicklung der ganzen Persönlichkeit galten.
Deswegen fühlte er sich von der hochdifferenzierten, aber kraftvollen Bildungsreform-Debatte der 1960er-Jahre angezogen und deren Zielen zeitlebens verbunden.
Georg Pichts Warnruf einer drohenden Bildungskatastrophe, Ralf Dahrendorfs Definition von Bildung als Menschenrecht sowie die intensiven konkreten Debatten des Deutschen Bildungsrates und seiner gutachterlichen Ergebnisse hat Dieter Wunder in sich aufgenommen.
Er wurde schon im Jahre 1972 – also mit 36 Jahren – zum Gründungsschulleiter der im Aufbau befindlichen Gesamtschule Mümmelmannsberg in einem Hamburger Arbeiterbezirk ernannt. Mit intellektueller Phantasie und nimmermüder Kraft hat er dafür gestritten, in seiner Schule Chancengleichheit zu garantieren.
1968 in die GEW eingetreten, hat er sich sehr früh in Kommissionen eingebracht, die sowohl inhaltliche als auch organisatorische Fragen bearbeiteten und reformorientierten Kolleginnen und Kollegen, vor allem in den sozialdemokratisch geführten Ländern, Hilfestellungen boten.
„Wir sahen Politik sehr naiv“
2011 meinte Dieter Wunder in der Rückschau, dass sich damals alle – sowohl Lehrkräfte als auch Politik – in der Gesamtschule und ihren Erwartungen überfordert hätten. „Wir sahen Politik sehr naiv“, meinte er. Politik und Lehrerschaft insgesamt hätten nichts von Lernprozessen verstanden. Das war nicht resignativ gemeint, sondern entsprang der Einsicht in die prinzipielle strukturelle Spannung zwischen politisch-gesellschaftlicher Erfolgserwartung und praktischer Einlösungsmöglichkeit. Er hat sehr früh gesehen, dass die mit der Bildungsreform verknüpften revolutionären Erwartungen einerseits und die pragmatischen Handlungsspielräume andererseits nicht deckungsgleich waren.
Dieter Wunder hat als GEW-Vorsitzender immer wieder versucht, diese Spannung zu formulieren und auszuhalten. Damit hat er manche Ungeduld nicht befriedigen können.
Die traditionell offensiv formulierten gewerkschaftlichen Forderungen hat er selbstverständlich geteilt: Entlastungen für Lehrkräfte, erhöhte Mitbestimmungsregelungen in Schulen und Hochschulen, Einstellung von Lehrkräften usw. Als er 1994 bei mir als niedersächsischem Kultusminister gegen die Streichung von Lehrerstellen vehement protestierte, wusste er zugleich, wie klein in finanziell beengten Zeiten der Spielraum eines Ressortministers ist. Und ich wusste, dass er eigentlich Recht hatte.
1997 wurde er – auch für ihn überraschend – nicht wiedergewählt. Seinen Reformimpetus hat er dadurch jedoch nicht verloren. Er weiß, dass nachhaltige Bildungsreform nur als Prozess konzipiert werden kann und dass es dazu auch der Mitarbeit aller demokratischen Parteien bedarf. Ausdruck fand diese Haltung darin, dass er bis vor wenigen Jahren in verschiedenen Reformgruppen in Brandenburg, in Hamburg, bei der Friedrich-Ebert- und der Heinrich-Böll-Stiftung mitarbeitete.
Nebenbei schreibt er an der Geschichte mittelalterlicher Adelsgeschlechter und ihrer sozialen Rolle. Wer dies als Widerspruch verstehen will, hat nichts von der differenzierten Humanitas Dieter Wunders verstanden. Ich wünsche ihm noch viele gesunde Schaffensjahre.
Prof. Rolf Wernstedt Niedersächsischer Kultusminister 1990 – 1998, KMK-Präsident 1997, Präsident des Niedersächsischen Landtages 1998
Foto: GEW
Der Artikel erschien in der E&W 04/2016