Können auch Virologen sich irren, fragte der Zeit-Journalist Andreas Sentker (DIE ZEIT v. 26.3.2020, S. 3), um mit Aristoteles zu antworten: Prämisse 1: Menschen irren. Prämisse 2: Virologen sind Menschen. Schlussfolgerung: Virologen irren.
Das, was der Autor an den Anfang seiner Überlegungen stellte, ist gerade das, was wir uns zurzeit nicht trauen, zu fragen. Natürlich hatten und haben wir das im Hinterkopf, als wir als Redaktion die Entscheidung trafen, die aktuelle Ausgabe der hlz ausfallen zu lassen. Und natürlich sind wir - wie wir alle – tief verunsichert. Dabei geht es weniger um diese schon üblichen Verschwörungstheorien, sondern durchaus auch um die in der Fachgemeinschaft der Virologen geäußerten Bedenken, was die Rigorosität der Maßnahmen betrifft.
Wenn man so will, halten wir still an dieser Stelle, weil für uns das oberste Gebot war und ist, nicht noch mehr Verunsicherung – in diesem Fall in unserer Mitgliedschaft – zu schaffen. Einer Art Staatsräson gleich, die wir vom Grundsatz ablehnen und zutiefst dem widerspricht, was wir eigentlich wollen: Die Auseinandersetzung suchen und den Diskurs führen, um den jeweiligen Erkenntnisprozess voranzubringen.
Ein nicht ungefährliches Unterfangen. Immer dann, wenn uns die Mächtigen dieser Welt suggerieren, dass es um das Allgemeinwohl ginge, das Wohl des Volkes o.Ä., ist besondere Vorsicht geboten. Dahinter steckt in aller Regel das Motiv, partikulare Interessen von ohnehin schon Privilegierten durchzusetzen. Schlagendes Beispiel, das wir alle noch aus den Geschichtsbüchern kennen: Kaiser Wilhelm II, der bei Kriegseintritt in den Ersten Weltkrieg unseren Großvätern und Großmüttern suggerierte: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche".
Wir wissen alle, wie verheerend das Ganze ausgegangen ist. Darf man also überhaupt solche Parallelen anführen? Wir denken, ja. Und zwar, um den Unterschied deutlich zu machen. In den Fällen von Krieg, in denen die Schicksalsgemeinschaft einer Nation allem Anderen vorangestellt wird, stehen im Hintergrund die Wahrung und Durchsetzung von partikularen Interessen. Bei Wilhelm II ging es um nichts weniger, als ein politisch marodes monarchisch-konservatives System zu retten mit dem Versprechen, es zu ungeahntem Glanz und Gloria zu führen.
Aber um welche Rettung geht es jetzt? Auch wenn wir aktuell erleben, wie einige Grundfesten unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung temporär ins Wanken geraten, so geht es dennoch nicht vordergründig, sondern substanziell um das nackte Überleben jenseits von Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit.
Wenn, wie zurzeit in Italien, Spanien und den USA das Verfahren der aus der militärischen Kultur stammenden „Triage“ zum Tragen kommen muss, also Ärzte entscheiden müssen, wem und wem nicht der Erkrankten sie eine Überlebenschance gewähren, weil nicht genug Beatmungsmaschinen für alle zur Verfügung stehen, wird sich anhand der gewählten Kriterien und der Praxis zeigen, inwieweit die Prinzipien von Humanität jenseits von Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit noch gelten.
Gegenüber diesen möglicher Weise anstehenden Entscheidungen auch hierzulande erscheint uns unsere Vorgehensweise des Abwartens in Hinblick auf die notwendigen Auseinandersetzungen gerechtfertigt. Unsere Vorsitzenden teilen rückhaltlos unsere Einschätzung.
Aber um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sehen auch wir die Gefahr, dass durch die massive Einschränkung von Freiheitsrechten dauerhaft Grundrechte in Gefahr geraten könnten. Es wird unsere Aufgabe sein, hier in Nach-Corona-Zeiten alles daran zu setzen, dass dies nicht geschieht. Nehmen wir es als Hoffnungsschimmer, dass aktuell der Protest gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán, der sich anschickt, die Krise zu nutzen, um seine Macht in Richtung autokratische Herrschaft auszubauen, von der überwiegenden Mehrheit der europäischen Regierungen sehr deutlich ausfällt. Aber wie in den meisten Fällen wird auch hier gelten: Ohne den Druck der Straße wird sich wenig bewegen.
Um euch ein wenig mehr in das Geschehen um unsere Entscheidung, die hlz-Ausgabe ausfallen zu lassen, miteinzubeziehen, nachfolgend das Ergebnis unserer Diskussion während der ersten Woche nach den Frühjahrsferien, das wir als Erklärung an die Vorsitzenden geschickt hatten. (s. Kasten)
Seitdem ist unsere Diskussion nicht abgebrochen. Wie ihr alle verfolgen wir die gegenwärtigen Entwicklungen immer auch mit dem Gedanken, ob und in welcher Weise es notwendig ist, unsere bisherige Position nicht nur zu überdenken, sondern daraus auch Schlüsse zu ziehen: M.a.W. entscheiden, wann auch immer wir euch eure anstehende aktuelle hlz präsentieren.
Die Tradition, uns über den Meinungsstreit auszutauschen, um auf diese Art einen Weg zu finden, der uns hilft, unsere Grundideen von mehr sozialer Gerechtigkeit auch und ganz besonders, wenn es um Chancengleichheit im Bildungswesen geht, durchzusetzen, bleibt ungebrochen bestehen. In diesem Sinne: Schreibt uns, was ihr denkt! Wir werden es sorgsam prüfen und darüber diskutieren, wann wir es veröffentlichen.
Im Auftrag der Redaktion bleibt mir an vorderster Stelle zu sagen:
Bleibt gesund!
Joachim
Stand: 31.3.2020
Anhang | Größe |
---|---|
![]() | 959.49 KB |