Und wie weiter?

01. Dezember 2014Von: Peter TränkleThema: Bildungspolitik
Die Inklusion wurde reichlich überstürzt eingeführt, ein organisatorischer Rahmen steht – aber inhaltlich gibt es wesentlich mehr Fragen als Antworten. Höchste Zeit, ein paar grundsätzliche Überlegungen anzustellen, die eigentlich vor die Einführung gehör
Thomas Plassmann

Wollen wir ein inklusives Schulsystem? Oder wollen wir inklusive Schulen? Ein inklusives Schulsystem kann nicht unabhängig von der Gesellschaft gesehen werden, d.h. Fragen nach beruflichen Perspektiven, behindertengerechter Umgebung, aber auch nach sozialen Strukturen, ökonomischer Perspektive und Gerechtigkeit (Stichwort: soziale Spaltung) müssen berücksichtigt werden. Ein inklusives Schulsystem kann unterschiedliche Ansätze und Rahmenbedingungen für die Beschulung behinderter Kinder beinhalten, alle mit dem Ziel der Inklusion in eine inklusive Gesellschaft.

 

Inklusive Schule kann als vom Rest der Gesellschaft relativ unabhängiger Mikrokosmos gesehen werden, in dem Inklusion sozusagen avantgardistisch umgesetzt wird, mit der Erwartung, dass die Gesellschaft anschließend nachzieht. Dadurch, dass der gesellschaftliche Rahmen zunächst ausgeblendet wird, lässt sich Inklusion wesentlich einfacher planen und schneller umsetzen, da organisatorisch ausschließlich die Rahmenstruktur Schule bedacht und verändert werden muss.

 

Genauso wichtig wie der Rahmen ist das Ziel der Inklusion: Wann ist Inklusion erfolgreich? Ist das Ziel der Inklusion die Inklusion? Unabhängig von den schulischen Ergebnissen für die Schüler_innen? Das würde bedeuten: Inklusion ist dann erfolgreich, wenn sie reibungslos funktioniert, als akademischer Selbstzweck sozusagen, nach dem Motto: dabei sein ist alles. Egal mit welchem Ergebnis. Das kann funktionieren, wenn wir die Gesamtheit der Schülerschaft als heterogene Masse mit homogenen Bedürfnissen begreifen.

 

Wenn wir aber die Ziele individuell definieren, also vom Kind/Jugendlichen aus, dann finden wir unterschiedlichste Voraussetzungen und Bedürfnisse, die sich schwerlich über einen organisatorischen Kamm scheren lassen. So kann ich mir z.B. bei schwer autistischen Kindern

und Jugendlichen kaum vorstellen, dass eine Beschulung in einer Regelklasse ihrem existenziellen Bedürfnis nach Sicherheit, ritualisierten, starren Abläufen und Kontrolle entsprechen kann. Wichtig wäre also eine differenzierte und sorgfältige Bestandsaufnahme: Welche Schüler_innen mit welchen Voraussetzungen und Bedürfnissen haben wir? Brauchen alle dieselben Rahmenbedingungen? Entspricht die Anpassung an einen einheitlichen Rahmen ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, Möglichkeiten und Zielen?

 

Wer soll wie inkludiert werden?

 

Und das führt uns zur nächsten und vielleicht wichtigsten Bestandsaufnahme: Welche Schüler_innen mit welchen Behinderungen sollen wie und wo inkludiert werden? Sind die verschiedenen Arten von Behinderung homogen in ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen oder müssen sie differenziert betrachtet werden? Sind die Bedürfnisse nach Inklusion bei jedem/r in jedem Lebensalter gleich? Tatsächlich haben Gehörlose vollkommen andere Voraussetzungen als Blinde, geistig behinderte andere Bedarfe als lernbehinderte oder körperbehinderte Kinder, Grundschüler_innen andere als Pubertierende. Allen diesen Behinderungen gemein ist jedoch, dass der Anspruch formuliert wird, dass von einer Inklusion alle Beteiligten, auch und gerade die nicht-behinderten, zumindest im sozialen Lernen profitieren können und sollen. (Bei Gehörlosen möchte ich allerdings diesbezüglich keine Prognose abgeben, dazu reicht mein Fachwissen nicht aus.)

 

Anders ist das bei der Gruppe der sogenannten Euse-Kinder, bei denen eine Behinderung im Sinne einer physischen Beeinträchtigung in der Regel gar nicht gegeben oder feststellbar ist. Die frühere Bezeichnung „verhaltensgestört“ wurde als diskriminierend empfunden, dabei ist der Begriff der Störung für diese Kinder von zentraler Bedeutung. Denn diese Kinder stören, das zeichnet sie aus. Sie stören ihre Mitschüler_innen, ihre Lehrer_innen, die Eltern der anderen, ihre eigenen Eltern oder Erzieher_innen, die Polizei, die Nachbarn, den Hausmeister – eigentlich stören sie jeden. Und sie nerven nicht nur ein bisschen; die Störung ist in der Regel so massiv, dass ein gemeinsames Lernen und ein geregeltes Miteinander unmöglich erscheint.

 

Gleichzeitig erleben diese Kinder ihre Umwelt und Mitmenschen selber als massiv (ver)störend, bedrängend und beängstigend, normale Situationen werden als nicht steuer- und kontrollierbar erlebt, ein manifestierter Außenseiterstatus führt häufig zum Mobbing (durchaus wechselseitig als Opfer und als Täter).

 

Für ihre Mitschüler_innen können diese Kinder oder Jugendlichen zu einem nicht verstehbaren Albtraum werden, dem dann nur noch mit Ausgrenzung und Abwehr begegnet wird. Umgekehrt gilt das allerdings in gleichem Maße: für ein störendes, sozial behindertes Kind kann sich das soziale Umfeld, einschließlich Lehrer_in, in ein nicht mehr verstehbares, feindliches Monster verwandeln, fatalerweise umso stärker, je mehr es sich nach Anerkennung abstrampelt.

 

Schulsystem anpassen

 

Und genau an dieser Stelle erklärt sich auch der für den Senator vollkommen unverständliche Anstieg von Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Die Förder- und Sprachheilschulen waren für Schüler_innen mit Förderbedarf in den Bereichen Lernen und Sprache ausgelegt – für die mit emotionalen und sozialen Defiziten war gar kein Diagnoseverfahren vorgesehen. Genau sie können jetzt aber (LES!) gemeldet werden – und da finde ich angesichts des dramatischen sozialen Auseinanderdriftens unserer Gesellschaft die vorliegenden Zahlen absolut realistisch.

 

Nun stellen diese Kinder aber die schwierigste Problemgruppe in der Inklusion dar. Und nicht nur dies – selbst bei den vergleichsweise gut ausgestatteten Inklusionsvorgängern Integration und Integrative Regelklasse wurden sie im Grunde gar nicht erfasst. Die wirklich schwierigen Fälle wurden aus ihrem gesamten sozialen Umfeld gerissen und in zweifelhaften Sondermaßnahmen wie Kuttula oder der Haasenburg untergebracht, wie man entgeistert erfahren musste. Aber auch unterhalb solcher Einrichtungen hat Hamburg, um den fortschrittlichen Schein wahren zu können, mehrere hundert Jugendliche außerhalb Hamburgs in Kleinheimen, inklusiv Beschulung, untergebracht. Nun ist „Aus den Augen, aus dem Sinn“ nicht nur das Gegenteil von Inklusion,

sondern von jeglicher ernsthafter Sonder- oder Sozialpädagogik.

 

Welche Aufgaben hatte die Förderschule?

 

D.h., eine 100%ige Inklusion wollte und will eigentlich niemand, man sollte nur nicht darüber

reden. Der Knackpunkt jeglichen pädagogischen Systems sollten aber gerade die Kinder sein, die so verschieden sind, dass sie nirgends wirklich hineinpassen – und sich auch nicht überall wohl fühlen. Das sind übrigens keineswegs nur Euse-Kinder. Und genau da zeigt sich, dass ein Schulsystem, dass allen gerecht werden will, vielfältig und differenziert sein muss. Es muss Schulen vorhalten, die klein und überschaubar für die Beschulten sind, ob man sie Dorfschulen oder ReBBbZs oder Sonderschulen nennt, ist gleichgültig. Was diese Schulen brauchen, ist ein besonderer Freiraum, der es ihnen ermöglicht, sich so an ihren Schüler_innen auszurichten, dass ihnen Zuordnung und in Folge Wachstum, Entwicklung und motiviertes Lernen gelingt.

Und die große Masse der Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf benötigt ein Schulsystem, das auf Integrationsklasse und integrativer Regelklasse aufbaut, anstatt beides zu negieren und zu zerstören und anschließend mit der Inklusion als Discount-Ausgabe die gute Idee Integration auf Jahrzehnte zu diskreditieren.

 

PETER TRÄNKLE, ReBBZ-Mitte, Pröbenweg

 

Bild: Thomas Plassmann