Sie leben zwischen Training auf Top-Niveau und Unterricht: Wer die „Friedrich Ludwig Jahn“-Schule in Potsdam besucht, bringt eine sportliche Begabung mit. Einige der Jugendlichen mischen schon während der Schulzeit auf internationalem Niveau mit – inklusive Wettkämpfen im In- und Ausland. Damit sie dennoch ihren bestmöglichen Abschluss schaffen, hat die Schule für ausgewählte Sportlerinnen und Sportler das „additive Abitur“ eingeführt. Gemeint ist, dass nicht alle Abschlussprüfungen in einem Jahr abgelegt werden.
Könnte dieses Verfahren statt einer Sonderlösung für Hochleistungssportler ein Modell für andere Schulen werden? Die GEW setzt sich für eine flexible Oberstufe ein, die je nach Lerntempo zwei, drei oder vier Jahre dauert. Für dieses Modell sprechen Erfahrungen anderer Länder und wissenschaftliche Erkenntnisse. Doch zurzeit scheint nicht einmal ein Modellversuch wahrscheinlich. Denn die Kultusministerkonferenz (KMK) sieht die Idee kritisch und will nicht vom klassischen Abitur abweichen.
Dabei seien neue Ideen überfällig, meint Anne Sliwka, Professorin am Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Heidelberg. „Der Zugang zu Wissen hat sich durch die Digitalisierung auf radikale Weise demokratisiert“, sagte sie 2017 in einem Vortrag. „Zeitgemäß lernen bedeutet nicht mehr nur verstehen, sondern die Fähigkeit zum problemlösenden Handeln zu wecken.“ Dazu gehöre, die Kompetenzen der Jugendlichen zu entwickeln – und möglichst viele mitzunehmen: „Vielfalt ist gesellschaftlicher Reichtum.“ Im deutschen Bildungswesen „denken wir in sozialen Bezugsnormen, wir vergleichen Schülerinnen und Schüler untereinander“, so Sliwka – ein Fehler aus ihrer Sicht. Sinnvoller sei, jedes Kind auf sein bestmögliches individuelles Bildungsniveau zu bringen, egal zu welchem Zeitpunkt.
Unter anderem für Kinder mit Behinderungen oder für Jugendliche mit nicht deutscher Muttersprache könnte eine Fristverlängerung wichtig sein, glauben die Aktiven der Initiative „Abitur im eigenen Takt“. Sie hat sich in Baden-Württemberg unter Federführung des Evangelischen Firstwald-Gymnasiums in Mössingen gegründet und arbeitet daran, die flexible Oberstufe Wirklichkeit werden zu lassen. Doch die Arbeit stagniert, weil politischer Rückhalt fehlt: Bisher hat kein Bundesland bei der KMK einen entsprechenden Modellversuch beantragt.
Pädagogische Vorteile
Die Struktur der Oberstufe und des Abiturs ändern zu wollen, sei „ein komplexes Thema“, sagt Andrea Schwermer, im Sekretariat der KMK für die gymnasiale Oberstufe zuständig. So stünden etwa organisatorische Gründe beim Kurs-Angebot gegen flexible Modelle, zudem seien individuelle Prüfungszeiten und zentrale Prüfungsfragen kaum vereinbar. Noch schwerer wiegen aus ihrer Sicht fachlich-pädagogische Gründe. Die Abiturnote setze sich zu zwei Dritteln aus den Leistungen in den letzten beiden Jahren der Oberstufe zusammen. „Die Abiturprüfung ist somit nicht allein ausschlaggebend, aber in den Klausuren und der mündlichen Prüfung sollen die Jugendlichen ihr über zwei Jahre erworbenes Wissen und Können in einzelnen Fächern unter Beweis stellen“, sagt Schwermer. Das Abitur habe einen ganz anderen Stellenwert, wenn alle Schülerinnen und Schüler zum selben Zeitpunkt zentral gestellte Aufgaben bearbeiten.
Alle schreiben in einem Raum dieselbe Klausur – Ilka Hoffmann, Mitglied des GEW-Vorstandes, schüttelt den Kopf über das Festhalten an der „rituellen Prüfungsabnahme“: „Es scheint, das Abendland würde sofort untergehen, wenn sich hier etwas ändert.“ Wie es anders gehen könnte, zeigt die GEW auf, die sich während ihres Gewerkschaftstages 2017 unter dem Motto „Bildung. Weiter denken!“ zum Schulversuch einer flexiblen Oberstufe bekannt hat. Hoffmann ist überzeugt: Neue Formen wie die flexible Oberstufe würden nicht das Niveau senken, sondern Jugendlichen die Chance geben, ihren eigenen Weg zu finden.
So starten in der Sportschule Potsdam Schüler im ersten Jahr der Qualifikationsphase mit einigen abiturrelevanten Fächern und legen nach vier Halbjahren die Prüfungen ab. Die restlichen Fächer folgen ab dem vierten Halbjahr, so dass die letzte Abi-Klausur dann am Ende der 13. Klasse geschrieben wird. Diese Entzerrung helfe besonders in der für viele stressigen Frühjahrzeit, sagt Evelyn Vollbrecht, Oberstufenkoordinatorin der Sportschule: „In vielen Sportarten laufen dann die wichtigen Qualifikationen.“
Jürgen Stahl, in der GEW Baden-Württemberg und der Bundesfachgruppe Gymnasium aktiv, sieht einen pädagogischen Vorteil der Flex-Oberstufe: Werde ein Teil der Fächer schneller abgegeben, bliebe der Kopf frei für die weniger geliebten Stoffe – die dann richtig durchdrungen werden könnten. Damit klappt vielleicht, was Bildungswissenschaftlerin Sliwka sich erhofft: der Sprung vom Durchwursteln – „doing school“ – zur Begeisterung für ein Fach. Schülerinnen und Schüler könnten je nach Niveau in verschiedene Kurse einsteigen, Lehrkräfte könnten sich auf bestimmte Themen konzentrieren: „Das macht sogar weniger Arbeit“, antwortet Stahl auf die Kritik, die Flexibilität würde mehr Aufwand für die Schulen bedeuten. Ein weiterer Vorteil der flexiblen Oberstufe: „Es lässt sich gut ein Auslandsaufenthalt unterbringen.“
Wie offen sind die Gymnasien?
Allerdings zog dieses Argument vor allem in den Jahren, in denen die meisten Bundesländer das Abitur nach der 12. Klasse verlangten. Inzwischen sind viele Länder wieder zu G9, sprich 13 Schuljahren, zurückgekehrt. „Das bringt natürlich eine Beruhigung in die Debatte“, sagt Stahl. Darüber hinaus sieht er ein deutliches Streben der KMK nach Vereinheitlichung der Abiturprüfung.
Unausgesprochen steht hinter der Debatte um die Flex-Oberstufe die Frage, wie offen die Gymnasien sind. Joachim Geffers, Schriftleiter der „Hamburger Lehrerzeitung“ (hlz), empört die „Kränkung der Hälfte aller Kinder, denen gesagt wird, sie seien nicht gut genug fürs Gymnasium“. Er kämpft in Hamburg für die flexible Oberstufe, denn ein gegliedertes Schulsystem verfestige soziale Unterschiede, sagt Geffers. Das heute in der Hansestadt praktizierte Zwei-Säulen-Modell aus Stadtteilschule und Gymnasium sei „eher ein Brandbeschleuniger der Segregation“ gewesen. Geffers wünscht sich eine Schule für alle; er sieht die Flex-Oberstufe als Schritt auf diesem Weg und verweist auf das Beispiel Finnland.
Dort erhalten rund 90 Prozent eines Jahrgangs das Abschlusszeugnis des „Lukio“, einer Schulform ähnlich dem deutschen Gymnasium. In Deutschland haben 2016 rund 41 Prozent der Absolventen die Allgemeine und 11 Prozent die Fachhochschulreife erworben. Doch die Kritik, Deutschlands Zahlen seien zu niedrig, weist KMK-Fachfrau Schwermer zurück, schließlich stehe beim Abitur in Deutschland die Studierfähigkeit im Mittelpunkt. Daher „müssen die Qualitätsmaßstäbe eingehalten werden“. So dürfte die flexible Oberstufe der Sportschule Potsdam vermutlich noch lange einzigartig in Deutschland bleiben.
„Warum nicht Gymnasium für alle?“
Jürgen Stahl von der GEW-Bundesfachgruppe Gymnasien sieht in der flexiblen Oberstufe ein Mittel für mehr Chancengleichheit.
- E&W: Herr Stahl, hat die GEW ein ideologisches Problem mit dem Gymnasium und will es mit der Flex-Oberstufe abschaffen?
Jürgen Stahl: Die GEW hat mit jeder Schulart des gegliederten Systems ein Problem, schließlich will sie eine Schule für alle Kinder! Aber jenseits der Strukturdebatte setzen wir uns in der Fachgruppe Gymnasien für die Lehrkräfte und Schüler ein, die an den Gymnasien lehren und lernen. Warum soll es nicht irgendwann das Gymnasium für alle geben? Wir wollen es für breite Schichten öffnen. Daher fordern wir einen Modellversuch, um die flexible Oberstufe zu testen.
- E&W: Würde das Abitur abgewertet, wenn die Frist verlängert wird?
Stahl: Die GEW steht für den hohen Leistungsstandard des Abiturs, aber wir wollen es vielen ermöglichen, diesen Standard zu erreichen. Es geht nicht da-rum, es leichter zu machen, aber auch wer mit schlechteren Bedingungen startet, soll es schaffen können – ohne Abstriche am Niveau, nur mit mehr Zeit.
- E&W: Ist es überhaupt sinnvoll, so viele Jugendliche durchs Abitur zu schleusen?
Stahl: Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei der Abiturquote -zurück. Dabei brauchen wir mehr junge Menschen, die die -anspruchsvollen Ausbildungen, die am Markt angeboten werden, erfolgreich bewältigen -können. Immer mehr Berufe fordern akademische Bildung und die Fähigkeit, sich eigenständig Wissen anzueignen. Darauf muss die Schule vorbereiten. Zudem bedeutet ein Aussortieren aus dem Bildungssystem einen Dämpfer, der die Selbstwirksamkeit der Kinder schwächt und ihre Chancen auf einen spannenden Berufs- und Lebensweg mindert.