Mehr als die Hälfte eines Schüler_innenjahrgangs schließt die Schullaufbahn mit dem Abitur ab, da erscheint ein anschließendes Studium folgerichtig. ist die konsequente Verfolgung dieses Weges notwendig und richtig? Ca. 55 Prozent der Hamburger Schülerinnen und Schüler haben 2014 das Abitur erreicht. Viele davon streben an die Hochschulen. Der bundesweite Trend geht in die gleiche Richtung: so lag 2012 die Studienberechtigtenquote bei über 50 Prozent (bereinigt um den Effekt doppelter Abiturientenjahrgänge, vgl. Bildungsbericht 2014). Mit dieser Entwicklung orientieren sich die Schülerinnen und Schüler an der langjährigen Forderung der OECD nach einer höheren Akademikerquote. Auch im aktuellen OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“ ist die Akademikerquote der zentrale Maß- stab. Dabei werden allerdings Besonderheiten des deutschen Bildungssystems ebenso zu wenig beachtet wie die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt.
Qualifikationsbedarf 2030
2010 setzten 17 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland eine Hochschulbildung voraus. Dieser Anteil wird steigen, bis 2030 aber nur auf 26 Prozent (vgl. Arbeitsmarktprognose 2030 des Bundearbeitsministeriums). Auch danach wird der An- teil solcher Arbeitsplätze nicht den Stand von Großbritannien oder den USA erreichen. Der Bedarf an Arbeitnehmer_innen mit einem Qualifikationsniveau der dualen Berufsausbildung wird sich in Deutschland kaum verändern (ebenfalls in der Arbeitsmarktprognose 2030. Die Entwicklung in absoluten Zahlen ist in der Grafik dargestellt). Daher ist es wenig sinnvoll, wenn alle Studienberechtigten auf eine Hochschulbildung setzen und die Akademikerquote (wie von der OECD gefordert) auf mindestens 62 Prozent gesteigert wird.
Zwischen der von der OECD geforderten Akademikerquote und der Arbeitsmarktprognose des Bundearbeitsministeriums (BMAS) besteht ein offensichtliches Missverhältnis. Laut Bildungsbericht 2014 nimmt mehr als die Hälfte eines Jahrgangs ein Studium auf. Diese Hochschulausbildungen werden nur zu ca. 51 Prozent abgeschlossen. Damit liegt die Akademikerquote der 18 bis 24-jährigen in Deutschland bei knapp 26 Prozent. Auf diese Weise könnte der vom BMAS für 2030 festgestellte Bedarf an Akademiker_innen erfüllt werden. Wie kann die OECD dann noch die Erhöhung der Akademikerquote fordern?
Angelsächsische und mitteleuropäische Ausbildungstradition
Auf dem HIBB-Fachtag „Berufsbildung 2020“ führte Juli- an Nida-Rümelin aus, dass ein College-Abschluss in den an- gelsächsischen Ländern i.d.R. der erste mögliche (!) Berufsabschluss sei. Das Studium an einem College ist also notwendig, um eine formale Qualifikation für den Arbeitsmarkt zu erwerben. In Deutschland (sowie Österreich, der Schweiz und Dänemark) gibt es aber eine große alternative, formale Qualifikationsform für den Arbeitsmarkt: die duale Berufsausbildung. Bezieht man diese mit ein, hat Deutschland bezogen auf die Gesamtbevölkerung einen höheren Bevölkerungsanteil mit einer formalen, auf dem Arbeitsmarkt anerkannten beruflichen Qualifikation als z.B. die USA. Einen solchen Vergleich nimmt die OECD nicht vor, weil sie (wie die Unesco) die dualen Berufsausbildungen dem Sekundarbereich zuordnet und die „College-Ausbildung“ dem tertiären Bereich. Weiterhin erwirtschaften Deutschland und Österreich – trotz einer im OECD-Vergleich geringen Akademikerquote – höhere Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukte als Großbritannien und Finnland (in 2012: Deutschland 41.923, Österreich 44.141 Euro, Großbritannien 35.671 und Finnland 39.207 jeweils US-Dollar, Quelle: Die OECD in Zahlen und Fakten 2014). Das ist insoweit erstaunlich, als die OECD empfiehlt, die Akademikerquote zu steigern, um ein höheres Bruttoinlandsprodukt zu erreichen.
Im Grunde genommen fordert die OECD nur eine höhere Ausbildungsquote. Leider nimmt die OECD dabei einen Blickwinkel ein, der Realitäten ausblendet, denn Deutschland (sowie Österreich, die Schweiz und Dänemark) haben insgesamt hohe Ausbildungsquoten. Durch die duale Berufsausbildung, Fachschulausbildungen und die berufliche Weiterbildung wird häufig ein Ausbildungs- und Einkommensniveau erreicht, das auch mit der ersten und zweiten tertiären Bildung mithalten kann.
Nicht die Ausbildungsart entscheidet
Weder der formale Ausbildungslevel nach OECD bzw. Unesco noch der Ausbildungsort (Hochschule bzw. Ausbildungs- betrieb) sollten bei der Entscheidung für ein Studium bzw. eine Berufsausbildung im Mittel- punkt stehen. Die Frage muss also lauten: „Was will ich in welchem Bereich von Gesellschaft oder Wirtschaft tun?“
Je nach der Antwort wird man mal ein Studium beginnen müssen oder eine Ausbildung beginnen können. Es gibt 330 anerkannte oder als anerkannt geltende Ausbildungsberufe, die in jedem Teil von Wirtschaft und Gesellschaft eingesetzt werden. Die Einkommen bei einigen von ihnen übersteigen das übliche Einkommen einiger Berufe mit Studienabschluss. Z.B. verdienen Maschinenbauschlosser mehr als Sozialpädagog_innen; Groß- und Einzelhandelskauf- leute sowie Flugzeugmechaniker verdienen mehr als Bibliothekar_innen und Archivar_innen. Industriemeister verdienen mehr als Apotheker_innen oder an- gestellte Gymnasiallehrkräfte an Privatschulen (Statistisches Bundesamt 2010: Fachserie 16 – Verdienststrukturen). Die Wahrscheinlichkeit einer Arbeitslosigkeit wird in Zukunft kaum davon abhängen, ob man studiert oder eine Berufsausbildung abgeschlossen hat. Prof. Dr. Stefan Sell verwies auf dem Fachtag der GEW „bereit für morgen“ auf Modellrechnungen für den Arbeitsmarkt 2030 von BIBB und IAB. Nach diesen wird es einen großen Bedarf an Fachkräften der mittleren Qualifikationsebene geben, auf der Ebene, die in Deutschland der- zeit vor allem von den dualen Berufsausbildungen gefüllt wird. Auf dieser Qualifikationsebene wird in Deutschland die Wahrscheinlichkeit einer Arbeitslosigkeit abnehmen. Auf einige Berufe trifft das allerdings nicht zu, z.B. auf die Friseurinnen und Friseure.
Ziel der Bildung
An dieser Stelle wird eingewendet werden, dass (Schul)Bildung nicht (allein) auf die Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt bezogen werden darf. Dieser Einwand ist natürlich richtig. Die Frage nach dieser Fokussierung berührt aber viel stärker die inhaltliche Ausgestaltung der Schulbildung als die Frage nach dem Ausbildungsort. Auch eine Bildungskarriere, die nach 10, 12 oder 13 Jahren Schule in einer Berufsausbildung fortgeführt wird, kann und sollte der Bildung der ganzen Persönlichkeit dienen und eine gesellschaftliche Teilnahme ermöglichen. Diese Allgemeinbildung muss an berufsbildenden Schulen gleich- wertig neben den beruflichen Inhalten stehen. Eine solche Ausgestaltung von Schulbildung ändert aber nichts daran, dass ein Bildungssystem auch dazu beitragen sollte, dass aus Schülerinnen und Schülern beruflich qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer werden.
Fazit
Bei der Berufsorientierung und in der gesellschaftlichen Diskussion darf der Ausbildungsort Hochschule nicht als heiliger Gral der Ausbildungsorte betrachtet werden, insbesondere, weil bei einer weiter erhöhten Akademikerquote nicht alle Hochschulabsolvent_innen mit einer adäquaten Beschäftigung rechnen dürfen. Stattdessen sollten persönliche Interessen für eine Tätigkeit oder eine Branche und in zweiter Linie die Beschäftigungsaussichten die Grundlage einer Berufswahlentscheidung darstellen. Die dualen Berufs- und Fachschulausbildungen sollten auch von Abiturient_innen als ernsthafter Bildungsweg betrachtet werden, unabhängig von der Einordnung der OECD. Hierzu sollte die GEW eine Haltung finden.
Roland Kasprzak, GPR-Vorsitzender
Graphik: Prognose von Angebot und Bedarf beruflicher Qualifikationen, Roland Kasprzak
Der Artikel erschien in der hlz 1/2016