»Deutschlands Schüler sind jetzt deutlich überdurchschnittlich«, titelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 4. Dezember nach der Veröffentlichung der neuesten PISA-Untersuchung. Die FAZ stimmt damit ein in den optimistischen Chor von Kultusministerien, Bildungspolitiker_innen und dem größten Teil der Medien.
Nach dem PISA-Schock von 2001 haben sich die Mittelwerte für Deutschland im Ranking der Nationen bei den gemessenen Schülerkompetenzen im Bereich der Lese,- Naturwissenschafts,- und Mathematikkompetenzen langsam nach oben entwickelt, so dass wir heute in der Lesekompetenz leicht, in der mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenz der 15-Jährigen deutlich über dem Durchschnitt der OECD liegen.
Die Verbesserungen sind in allen Bereichen auf den ersten Blick vor allem auf die Leistungssteigerungen bei den bildungsbenachteiligten Gruppen zurückzuführen, dagegen ist der Anteil der Schüler_innen in den höchsten Kompetenzstufen konstant geblieben. Der Anteil derer, die auf den untersten Kompetenzstufen liegen, ist deutlich zurückgegangen – allerdings von einem skandalösen Ausgangsniveau, das Deutschlands Bildungssystems noch 2001 als das ungerechteste in Europa eingestuft hat:
»Die seit 2001 verabschiedeten Reformen zur Förderung von Bildungsqualität und Bildungsgerechtigkeit hatten in Deutschland offenbar einen positiven Effekt auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund.
- 2003 erzielten Schüler mit Migrationshintergrund in Mathematik durchschnittlich 81 Punkte weniger als Schüler ohne Migrationshintergrund; 2012 hatte sich dieser Leistungsabstand auf 54 Punkte verringert. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind im Vergleich zu ihren Mitschülern ohne Migrationshintergrund sozioökonomisch benachteiligt; nach Berücksichtigung des sozioökonomischen Hintergrunds sinkt der Leistungsvorsprung der Schüler ohne Migrationshintergrund auf weniger als die Hälfte (25 Punkte) (…).
- Dennoch ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, der Kompetenzstufe 2 in Mathematik nicht erreicht, mit 31% mehr als doppelt so hoch wie jener von Schülern ohne Migrationshintergrund (14%). Etwa 39% der Schüler mit Migrationshintergrund der ersten Generation und rd. 29% der Schüler mit Migrationshintergrund der zweiten Generation liegen unter Stufe 2.« (OECD: PISA 2012 Ländernotiz Deutschland)
Ein positives Ergebnis der umstrittenen PISA-Untersuchungen ist, dass die Bildungsbenachteiligten an den Schulen stärker in den Fokus genommen wurden und so die riesige Schere zwischen den leistungsschwächeren und den leistungsstärkeren Schüler_innen in den zurückliegenden zwölf Jahren leicht geschlossen werden konnte. Noch immer aber ist bei der Mathematikkompetenz (die bei PISA 2012 im Mittelpunkt stand) ähnlich wie beim Lesen jeder siebte Schüler in Deutschland mit 15 Jahren auf bestenfalls Grundschulniveau – bei den Schüler_innen mit Migrationshintergrund jeder dritte.
Trotz massiver Wirtschaftskrise im Erhebungszeitraum, von der alle untersuchten Länder in unterschiedlichem Maß betroffen waren, sind 22 Länder erfolgreicher als Deutschland gewesen bei der Verbesserung der Schülerkompetenzen.
Überlesen wird in den meisten Kommentaren der Hinweis in der PISA-Studie, dass die Verbesserungen möglicherweise eher auf veränderte sozioökonomische bzw. demografische Veränderungen in der Schülerpopulation zurückzuführen sein könnten als auf Verbesserungen im Unterricht oder in der Bildungspolitik. Nach Bereinigung um die Veränderungen der zwischen 2000 und 2012 getesteten Schülerpopulation nach Alter, Geschlecht, sozioökonomischem Status, Migrationshintergrund und der zu Hause gesprochenen Sprache kommt die PISA-Studie zu dem Ergebnis, das OECD-weit eher von einer Verschlechterung der Leistungen gesprochen werden muss. Auch in Deutschland stagnieren nach dieser Korrektur die Kompetenzen in Mathematik und Lesen seit 2000 (vgl. PISA 2012, S. 61ff.).
Die massiven Schwachstellen des deutschen Schulsystems sind – trotz Veränderungen bei der Schulstruktur, der Ganztagsschulentwicklung und der Einführung von Schritten hin zur Inklusion – nach wie vor virulent. Insbesondere das Auseinanderdriften der Bildungschancen nach sozialer Lage, Wohngebiet und Schulart ist nach wie vor eklatant und ein besonderes Charakteristikum deutscher Schule:
»In Deutschland sind über die Hälfte der unterschiedlichen Schülerleistungen (Varianz) zwischen den Schulen zu beobachten, das ist wesentlich mehr als im OECD-Durchschnitt. Die vergleichsweise große Leistungsvarianz zwischen den Schulen spiegelt Deutschlands mehrgliedriges Schulsystem im Sekundarbereich wider, wo die Schüler entsprechend ihrer Leistungen auf verschiedene Schultypen verteilt werden. Trotz der weitreichenden Bildungsreformen der letzten zehn Jahre, die dazu führten, dass heute eine größere Zahl von Schülern Schulen besucht, die verschiedene Bildungsgänge kombinieren, hat sich die Leistungsvarianz seit 2003 weder zwischen den Schulen noch innerhalb der Schulen deutlich verändert.« (OECD Ländernotiz Deutschland, S. 5)
Mit der Veränderung der Schulstruktur weg vom vielfach gegliederten Schulsystem von selbstständigen Förder-, Haupt-, Realschulen und Gymnasien hin zu einem Zwei-Säulen-Modell, in dessen zweiter Säule alle Schulen neben dem Gymnasium zusammengefasst werden, hat sich der Trend an Deutschlands Schulen verstärkt, innerhalb einer Schule zu separieren:
»Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die Schulen besuchen, die keine Einteilung in Leistungsgruppen vornehmen, ist in Deutschland zwischen 2003 und 2012 von 54% auf 32% zurückgegangen, und ein größerer Anteil der Schüler gab an, dass in ihrer Schule in einigen oder allen Unterrichtsstunden eine Einteilung der Schüler entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit erfolgt.«
Die Gefahr ist damit gegeben, dass dort, wo äußere Separierung der Schüler_innen zurückgefahren und in einer Schule gemeinsam unterrichtet wird, die innere Separierung an ihre Stelle tritt. Schon jetzt ist z.B. an einigen Hamburger Stadtteilschulen zu beobachten, dass dort in einem Jahrgang getrennte Klassen je nach Leistung für »Hauptschüler_innen«, »Realschüler_innen« und für »Gymnasiast_innen« eingerichtet werden. Das läuft dann auf das dreigliedrige Schulsystem innerhalb einer Schule hinaus.
Spitzenwerte nimmt Deutschlands Schulwesen nach wie vor hinsichtlich Sitzenbleiben bzw. Klassenwiederholungen und Abschulungen ein – auch das sind Indizien für eine hohe Selektivität der deutschen Schule.
Im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Unterschiede in den Lernleistungen gibt es zwischen weiblichen und männlichen Schüler_innen in den Bereichen Mathematik und Lesekompetenz. Mädchen liegen in den Mathematikleistungen weit hinter den Jungen zurück und weit vor ihnen in allen Bereichen der Lesekompetenz. Die Unterschiede haben sich in den zurückliegenden Jahren eher verstärkt und verweisen auf ein massives Problem geschlechtergerechter Förderung. Anderen Ländern gelingt es deutlich besser, dieses Problem zu lösen.
Auch die Hinweise darauf, dass sich die Schuldisziplin in Deutschland im Unterschied zum internationalen Durchschnitt verschlechtert hat und die Schüler_innen den Eindruck haben, dass auf sie im Unterricht nicht genug eingegangen wird, verweisen darauf, dass die Lehr- und Lernbedingungen an den Schulen schlechter werden, die Lehrkräfte angesichts zunehmender Aufgaben überfordert damit sind, jeden Schüler individuell zu fördern.
»Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland angaben, dass es bei ihnen im Unterricht oft laut ist und dass es ›drunter und drüber geht‹, ist zwischen 2003 und 2012 um 4 Prozentpunkte von 25% auf 29% gestiegen (OECD-Durchschnitt: Rückgang von 38% auf 33%). Auch der Anteil der Schüler, in deren Klassen ›es lange dauert, bis die Schüler mit dem Arbeiten anfangen‹ hat sich von 26% auf 29% erhöht (OECD-Durchschnitt: Abnahme von 29% auf 28%). Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eigenen Angaben zufolge Schulen besuchen, in denen die Schüler ihren Lehrkräften nicht zuhören, stieg erheblich – um 14 Prozentpunkte von 22% im Jahr 2003 auf 36% im Jahr 2012 (OECD-Durchschnitt: 31% im Jahr 2003, 32% im Jahr 2012) (...).
Während im OECD-Durchschnitt 82% der Schülerinnen und Schüler der Aussage ›Wenn ich zusätzliche Hilfe brauche, bekomme ich sie von meinen Lehrerinnen und Lehrern‹ ›völlig‹ oder ›eher‹ zustimmten, war dies in Deutschland nur für 66% der Fall. Ähnliches gilt für die Aussage ›Die meisten meiner Lehrerinnen und Lehrer interessieren sich für das, was ich zu sagen habe‹, der im OECD-Schnitt 74% der Schülerinnen und Schüler ›völlig‹ oder ›eher‹ zustimmen, während in Deutschland mindestens ein Drittel der Schülerinnen und Schüler anders antwortete.« (OECD, Ländernotiz zu Deutschland, S. 8)
Als warnendes Beispiel gilt dem PISA-Koordinator Andreas Schleicher Schweden, ein Land, das zu den wenigen gehört, die sich über den gesamten Zeitraum seit 2000 nicht verbessern konnten: »Schweden ist so ein Land. Da haben sich die Leistungen der Schulen stark auseinanderentwickelt: die schwachen Schulen sind noch schwächer geworden, die starken jedoch haben sich nicht verbessern können. Eine Ursache dürfte in den gewachsenen sozialen Gegensätzen im Land zu suchen sein, eine andere in der Tatsache, dass relativ autonome Schulen nicht in ein kohärentes Bildungssystem eingebettet sind.« (Zeit online, 3.12.2012)
Die PISA-Studien sind in Deutschland seit längerem umstritten. Zum einen wird ein ideologischer Kampf dagegen geführt, dass insbesondere der (deutsche) PISA-Koordinator Andreas Schleicher das deutsche Schulwesen schlechtrede und ein inklusives Schulwesen sowie höhere Schulabschlüsse für alle fordere. Die Kämpfe für Bildungsprivilegien und ein selektives Schulsystem werden seit Jahren angeführt vom Präsidenten des deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, der auch diesmal die besseren Ergebnisse der schwächeren Schüler zum Anlass nimmt, die Gleichmacherei im Schulwesen zu kritisieren und bessere Förderung der Starken zu fordern.
Zum anderen regt sich aus Teilen der Wissenschaft Widerstand gegen die Pisa-Studien. Die Kritikpunkte sind:
- Die Beschränkung auf Mathe, Naturwissenschaften und Lesen reduziere Schule auf einen kleinen Bereich und entwerte gleichzeitig Kompetenzen und Lernfelder wie soziales Verhalten, Kreativität, kritisches Denken, Kunst etc.
- Kompetenzorientierung sei eine Mode, die fachliche Inhalte und Wissen ersetze und so zu Leistungsverfall führe.
- Die PISA-Rankings seien methodisch fragwürdig und Ländervergleiche verglichen Äpfel mit Birnen, weil die Lernbedingungen und Lernkulturen z.B. zwischen den asiatischen und den europäischen Staaten sehr unterschiedlich seien.
- Die OECD als Auftraggeber sei an der Entwicklung von Humankapital interessiert und habe ausschließlich die Verwertbarkeit von Bildung im Sinn.
An einigen dieser Kritikpunkte ist ein rationaler Kern. Die PISA-Studien haben allerdings das große Verdienst, den Zusammenhang von sozialer und ethnischer Herkunft und Schulerfolg zu thematisieren und z.B. in Deutschland eine öffentliche Auseinandersetzung um Schulstrukturen, Inklusion und Bildungsgerechtigkeit initiiert zu haben, die über eine reine Expertendebatte hinaus geht.
Pisa 2012 gibt jedenfalls der großen Koalition in Deutschland keine Argumente dafür, ein »Weiter so« im Bildungsbereich zu propagieren. Stattdessen müssen die Anstrengungen für bessere Bildung für alle Schüler_innen und Ausgleich sozialer Schieflagen an Deutschlands Schulen deutlich verstärkt werden.
Klaus Bullan, 5.12.2013
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