Die Fachgruppe Gymnasien hatte gerufen. Diejenigen, die kamen, erlebten einen fulminanten Vortrag, der zu einer spannenden Diskussion einlud Wenn die Nacht am dunkelsten, ist die Dämmerung am nächsten. Dieser Spruch iel mir ein, als in verschiedenen Redebeiträgen auf der Veranstaltung zum ‚Abitur im eigenen Takt‘ von der Unmöglichkeit gesprochen wurde, eine solche Idee politisch umzusetzen. Obwohl man sich weitgehend einig war, dass dieses Modell eigentlich die richtige Antwort auf die Widersprüche im System des gegliederten Schulwesens sein könnte. Wesentlich zu dieser Einigkeit beigetragen hatte der Referent, Friedemann Stöfler, der schon seit einiger Zeit versucht, ein Modellprojekt in Baden-Württemberg zu initiieren, nach dem Schüler_innen selbst entscheiden können, wann sie welches Modul fürs Abitur erbringen. Minutiös zeigte Stöfler, wie es gehen kann. Die Blaupause liegt somit vor.
Vom Schüler, von der Schülerin denken - das war sein Credo. Niemand würde die Qualifikation einer Akademikerin oder eines Akademikers in Frage stellen, gleich ob sie/er 8, 10 oder 12 Semester für das Studium gebraucht hat, niemand würde die Fahrqualität eines Autofahrers oder einer Autofahrerin anzweifeln, egal ob diese/r 10 oder 25 Fahrstunden für den Führerschein gebraucht hat. Nur in der Schule sei alles anders. Dort dominiere der Gleichschritt. Und dies, obwohl man wisse, dass die individuellen Voraussetzungen für das Lernen im Allgemeinen ungleicher nicht sein könnten. Migration und die aktuelle Zuwanderung durch Flüchtlinge verstärkten diese Ungleichheit, ganz abgesehen von den Implikationen, die die Realisierung der Inklusion mit sich brächten. Kurzum: die Verhältnisse ‚schreien‘ geradezu nach solch einem Modell!
Dabei wäre eine Veränderung im Sinne Stöflers auf den zweiten Blick gar nicht so revolutionär, wie es zunächst scheint. Lernen in Modulen knüpft an das bestehende System an. Dass dies von der jetzigen Praxis gar nicht so weit entfernt ist, zeigt sich am deutlichsten an Schulen, die vorher als kooperierende Gesamtschulen existierten. Große Systeme wie etwa die Heinrich- Hertz-Schule verfahren bereits ähnlich. Die trennen bekanntlich nach der 6. Jahrgangsstufe, um dann die Schüler_innen, die später aus dem Stadtteilzweig den Sprung in die Oberstufe schaffen, nach einem Jahr Vorbereitung in die selbe (!) gymnasiale Oberstufe zu führen, die ihre Mitschüler_innen aus der 4. Klasse das Jahr zuvor durchlaufen haben. D. h., das 2-Säulen- System ist an dieser Stelle aufgelöst.
Wie nah die beiden Säulen aneinander stehen, zeigte die Diskussion noch an einer anderen Stelle. In einer Art Grauzone als Reaktion auf das 2-Säulen- Modell werde das System unterlaufen, indem immer mehr Schüler_innen nach der 10. Jahrgangsstufe des Gymnasiums auf die Stadtteilschule wechseln, um mehr Zeit zum Lernen bis zum Abitur zu haben. Der Druck von Elternseite wurde scheinbar so groß, dass der Senator jüngst nachgeben musste und ein Wechsel nun offiziell erlaubt ist. Interessant, was ein Kollege aus einer Stadtteilschule dazu beisteuern konnte: dass sich nämlich ein Teil dieser Schüler_innen innerhalb dieser drei Jahre ein halbes oder ganzes Auslandsjahr gönnt. Genau das, was im Konzept des ‚Abiturs im eigenen Takt‘ als eine Möglichkeit von vielen vorgesehen ist.
Man kann das ja als Verrat an der Stadtteilschule geißeln. Eltern entscheiden sich nach der 4. Klasse für’s Gymnasium, um dann, wenn‘s nicht so gut läuft, das Kind nach der 10. Klasse elegant den Wechsel vollführen zu lassen. Es war ja anders gedacht. Schwierig, moralisch darüber urteilen zu wollen. Der Fehler liegt eben eher in der Schizophrenie des Systems als an dem Elternwillen, der beseelt ist von dem Gedanken, für das Kind das Beste herausholen zu wollen. Wie sollte es anders sein in einem System, das ausschließlich von Konkurrenz geprägt ist?!
Nun wollen wir uns in der GEW, wenn wir über die Chancen dieser Schüler_innen nachdenken, aber nicht primär zum Anwalt der ohnehin bessergestellten Schüler_innen machen. Natürlich sehen wir in dem Modell des Abiturs im eigenen Takt auch die Chance, die Tür für eine ‚Schule für Alle‘ einen Spaltbreit zu öffnen. Denn sie würde den Schüler_innen, die herkunftsbedingt benachteiligt sind, den Vorteil verschaffen, Deizite stärker als bisher kompensieren zu können. Denn wenn Ulrich Vielufs Untersuchungen im Rahmen von KESS zu G8/G9 richtig sind, dass nämlich die Lernzuwächse der G 9-Schüler_innen, also von denen an Stadtteilschulen, größer sind als die der Gymnasiast_ innen in diesem Zeitraum, dann böte ein Modell mit G10, wie wir es uns vorstellen, die Chance, dass auch die Abschlüsse sich weiter anglichen. Vielleicht geht ja sogar den Kolleg_innen der beruflichen Gymnasien dabei ein Licht auf. Die Wirtschafts- und Technischen Gymnasien laufen nämlich gegenwärtig Gefahr auszutrocknen, weil sich immer mehr Stadtteilschüler_ innen, die den Sprung in die Oberstufe schaffen, dazu entscheiden, an ihrer Schule zu bleiben. Eine Integration der berulichen Gymnasien im Rahmen modularer Abschlüsse läge somit auf der Hand.
Was noch einmal deutlich wurde: Wo, wenn nicht in einem Stadtstaat wie Hamburg, in dem die Systeme örtlich so dicht beieinander liegen, ließe sich die Idee eines Abiturs im eigenen Takt besser realisieren?!
Die Chance, dieses Modell doch noch politisch hoffähig zu machen, liegt folglich darin, dass es nicht nur den benachteiligten Schüler_innen (aufgrund ihrer sozialen Herkunft) mehr Chancen einräumt, sondern auch den, nennen wir sie mal „Privilegierten“ dazu verhelfen könnte, auf einem angenehmeren und damit auch erfolgversprechenderen Weg zur Reifeprüfung zu gelangen. Wenn es diesen Kräften dämmert, wäre der Morgen also doch nicht so fern, wie es scheint.
Joachim Geffers