Das Bundesarbeitsgericht hat jüngst klargestellt: In Deutschland besteht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Kommt jetzt die Stechuhr zurück? Was bedeutet das Urteil für den Bildungssektor? Wie geht es weiter? Die GEW gibt Antworten.
Arbeitgeber sind in Deutschland dazu verpflichtet, ein System der Arbeitszeiterfassung einzuführen. Dies hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 13. September entschieden. Die Entscheidung ist ein Paukenschlag. Das BAG legt damit fest, was Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bislang nur angekündigt, aber nicht mit einem Gesetz umgesetzt hat: Arbeitgeber müssen die Arbeitszeiten der Beschäftigten systematisch erfassen. „Trotz vollmundiger Ankündigungen hat Bundesarbeitsminister Heil bis heute keinen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im deutschen Arbeitszeitgesetz vorgelegt“, kommentierte GEW-Tarifexperte Daniel Merbitz den Beschluss des BAG.
Muss der Arbeitgeber ab jetzt meine Arbeitszeit erfassen?
Mit dem Urteil des BAG ist die Debatte, ob eine Pflicht zur systematischem Erfassung der Arbeitszeit besteht, beendet. Sie besteht! „Das ist eine gute Nachricht für Arbeitnehmer*innen: Überstunden, Überlastung und Überforderung können mit einer verlässlichen Arbeitszeiterfassung eingedämmt werden. Überlange Arbeitszeiten, zu wenig Pausen und Ruhephasen sind gesundheitsschädlich. Arbeitgeber müssen jetzt erst recht aktiv werden: Sie müssen ein System einführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit verlässlich erfasst werden kann“, kommentierte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel die Entscheidung des BAG.
Was passiert, wenn der Arbeitgeber die Arbeitszeit nicht erfasst?
Kommt der Arbeitgeber trotz Aufforderung seiner Verpflichtung nicht nach, können die Arbeitsschutzbehörden kontaktiert werden, die die Einhaltung des Arbeitsschutzes überwachen sollen. Betriebsräte sind jetzt besonders gefordert. Das BAG hat mit seinem Urteil zwar ein Initiativrecht der Betriebsräte zur Einführung einer Arbeitszeiterfassung verneint, weil diese ja bereits von Gesetzes wegen für den Arbeitgeber verpflichtend sei. Bei der konkreten Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung hingegen haben sie weiterhin mitzureden.
Was bedeutet das jetzt gefällte Urteil für Lehrkräfte, Erzieher*innen, pädagogisches Personal – kurz: für den Bildungssektor?
Das Arbeitsrecht und damit auch die Entscheidung des BAG gilt für alle Angestellten – egal ob in Hochschule, Schule, Kita oder sonstiger pädagogischer Einrichtung. Jetzt sind Betriebs- und Personalräte gefordert, mit den Arbeitgebern über die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung zu verhandeln. Komplizierter ist es bei Beamt*innen wie z.B. Lehrkräften. GEW-Vorstandsmitglied für Tarif- und Beamtenpolitik, Daniel Merbitz, wies darauf hin, dass zwar das deutsche Arbeitszeitgesetz für Beamt*innen nicht unmittelbar gilt, die Länder als Dienstherren aber genauso an die Rechtsprechung des EuGH gebunden seien. Daher forderte er die Landesregierungen auf, unverzüglich mit der GEW über die Umsetzung einer Arbeitszeiterfassung im Bereich von Schulen und Hochschulen zu verhandeln.
Was hat das mit dem sogenannten „Stechuhr-Urteil“ des EuGH zu tun?
Das BAG begründete die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeiten mit einem vorangegangenen Urteil des EuGH – das sogenannte „Stechuhr-Urteil“. Der EuGH hatte im Mai 2019 entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten, mit dem die täglich geleistete Arbeitszeit der Beschäftigten gemessen werden kann. Nur so könnten die Rechte aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie umgesetzt werden, also die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie die täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten. Das Urteil des EuGH ist bislang von Deutschland nicht in nationale Gesetzgebung übergegangen. Das BAG nimmt dies mit seinem Urteil nun vorweg.
Kommt die Stechuhr jetzt zurück?
Nein. Unter Überschriften wie „Rückkehr der Stechuhr“ wird oft die Gefahr beschworen, dass mit der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ein Ende von Freiheit und Homeoffice drohe und nun alle wieder mit der Stechuhr ihre Arbeitszeit erfassen müssen. Das Gegenteil ist der Fall! Schon der EuGH hatte klargemacht, dass Zeiterfassung auch durch die eigene Erfassung durch Aufschreiben oder elektronische Erfassung von außerhalb erfolgen kann. Entscheidend sei, dass jede Arbeitszeit, die geleistet wird, auch erfasst wird. Nur so könne der Arbeitgeber seine Beschäftigten vor überlangen Arbeitszeiten oder fehlenden Ruhezeiten schützen. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung steht dem Arbeiten von zu Hause nicht im Weg.
Wie geht es weiter? Kommt jetzt ein Gesetz zur Arbeitszeiterfassung?
Eine schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Trotzdem ist Bundesarbeitsminister Hubertus Heil jetzt gefordert, die Umsetzung des EuGH-Urteils zur Arbeitszeiterfassung in einem nationalen Gesetz zu verankern. Die GEW hat dazu konkrete Vorschläge gemacht:
- Zeiterfassung darf nicht zur Leistungskontrolle und Überwachung der Beschäftigten führen.
- Die Besonderheiten pädagogischer und wissenschaftlicher Arbeit müssen bei der Arbeitszeiterfassung berücksichtigt werden.
- Die vom Arbeitgeber geforderten Tätigkeiten müssen klar definiert sein. Diese Aufgaben sind so zu bemessen, dass sie im Rahmen der geschuldeten Arbeitszeit auch tatsächlich geleistet werden können.
- Zeiterfassung darf mobile Arbeit nicht behindern, sie muss entsprechend organisiert sein, z. B. durch Selbsterfassung. Eine Präsenzpflicht folgt aus der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nicht.
- Unter Wahrung der durch die EU-Arbeitszeitrichtlinie vorgegebenen Arbeitszeitgrenzen zum Schutz der Beschäftigten sollte den Beschäftigten im Interesse einer besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben eine größtmögliche Flexibilität eingeräumt werden.
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