Belastet und erschöpft? Selber schuld!

10. November 2014Von: WebredaktionThema: Arbeits- und Gesundheitsschutz
Der Aktionsrat Bildung warnt vor zunehmender psychischer Belastung der Lehrkräfte, zieht daraus jedoch die falschen Schlüsse
Sebastian Bernhard / pixelio.de

Im Feld der Politikberatung angesiedelt, jedoch mit starker Affinität zur Wirtschaft, sind um die Jahrhundertwende Think Tanks entstanden, die in Form wissenschaftlich unterfütterter Expertisen versuchen, Einfluss auf (bildungs)politische Entwicklungen zu nehmen. Prominentestes Beispiel ist das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), das 1994 auf Initiative der Bertelsmann Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) gegründet wurde. Einer dieser Think Tanks ist der Aktionsrat Bildung, ein Expertengremium, das sich 2005 auf Initiative der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) konstituiert hat. In Form von Jahresgutachten beurteilt der Aktionsrat die Situation im deutschen Bildungssystem und gibt konkrete Handlungsempfehlungen ab. So erschienen in den letzten Jahren Studien zu Ganztagsgrundschulen und zum Zentralabitur, aber auch zur Autonomie und zu Reformen in den einzelnen Bildungsbereichen von der frühkindlichen Erziehung über die Schulen und Hochschulen bis zur Weiterbildung. Aktueller Vorsitzender des Aktionsrats ist Prof. Dr. Dieter Lenzen, der derzeitige Präsident der Universität Hamburg. Nun ist ein neues Gutachten erschienen, das unter dem Titel Psychische Belastungen und Burnout beim Bildungspersonal die Situation der Lehrkräfte an den Schulen untersucht und Anforderungen benennt, denen sich die Schulen und die Lehrkräfte zu stellen haben, um Burnout bei den Beschäftigten vorzubeugen. Im Folgenden gehe ich auf den Anlass und die Ziele des Gutachtens ein, stelle ihre Ergebnisse und Empfehlungen dar und reflektiere diese anschließend vor dem Hintergrund unserer gewerkschaftlichen Erfahrungen.

 

 

Burnout führt zu Fehltagen, Frühverrentung und schlechtem Unterricht

 

Der Aktionsrat stellt die Ergebnisse verschiedener Studien zum Belastungserleben von Beschäftigten im Bildungswesen vor und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Berufsgruppe als überdurchschnittlich stark belastet zu bewerten ist (vgl. vbw 2014, S. 69). Dieser Befund bestätigt sich in den Erhebungen „Arbeitsqualität aus Sicht von Lehrerinnen und Lehrern. Ergebnisse aus der Erhebung zum DGB-Index Gute Arbeit“ (GEW 2008), der Studie „Arbeitsbedingungen und Belastungen im öffentlichen Dienst“ (HBS 2013) wie auch in der Online-Umfrage zum Thema Arbeitsbelastung und Arbeitszeit von LehrerInnen in Hamburg der GEW Hamburg von 2014, deren Ergebnisse in dieser hlz vorgestellt werden. Neben der „individuellen Dramatik“ nimmt der Aktionsrat die „besorgniserregend starke Zunahme der Fehltage und Frühverrentung wegen psychischer Erkrankungen“ als Anlass, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen, da diese einen volkswirtschaftlichen Schaden bedeuteten. Motivierte und engagierte Mitarbeiter seien der „Motor für ein leistungsstarkes Bildungssystem“, burnout-gefährdetes Personal dagegen leiste „in der Qualität beeinträchtigte Arbeit“. Das Gutachten geht daher der Frage nach, wie eine „effektive Prävention psychischer Belastungen beim Bildungspersonal“ aussehen kann (ebd., S. 9 ff.). Zur Beantwortung dieser Frage geht er in zwei Schritten vor: Erstens betreibt er Ursachenforschung und fragt danach, ob die Gründe psychischer Belastung eher in der Schulorganisation oder eher bei den Lehrkräften und ihrem Umgang mit der Arbeitssituation zu suchen sind. Zweitens gibt er Handlungsempfehlungen ab und diskutiert, wo Präventionsmaßnahmen anzusetzen haben. Müssten Schulfaktoren, wie z.B. die Klassengröße, verändert werden oder ist es der ‚Faktor Mensch‘, der sich zu ändern habe, um Fehltagen und Frühverrentung vorzubeugen?

 

 

Arbeitszeit und Klassengröße? Nicht bedeutsam…

 

Bei der Suche nach Risikofaktoren, die eine psychische Beeinträchtigung bis hin zum Burnout begünstigten, geht der Aktionsrat auf die Bedeutung der Klassengröße und des Lehrdeputats ein. Einerseits, so der Aktionsrat, könne die „Arbeitskraft der Lehrkraft […] umso effizienter genutzt werden, je mehr Unterrichtsstunden sie gibt und je größer dabei die jeweiligen Schulklassen sind.“ Andererseits „sind Lehrkräfte selbst oft der Meinung, dass kleinere Klassen oder eine Verringerung ihres Stundendeputats ihr Belastungserleben reduzieren würden“ (ebd., S. 92). Was sagt die Empirie dazu? Die vom Aktionsrat zusammengefassten Ergebnisse verblüffen, denn er kommt zu dem Schluss, dass sich die Klassengröße und das Lehrdeputat als nicht relevant für das subjektive Belastungserleben erwiesen. „Wohl aber“, so fasst der Aktionsrat weiter zusammen, zeige „sich ein Einfluss persönlicher Bewältigungsmechanismen“ (ebd.), d.h. des individuellen Umgangs mit den Belastungen und Herausforderungen des Arbeitslebens. Somit kommt er zu dem Schluss, dass es nicht äußere Faktoren und Ressourcen sind, die Burnout begünstigten oder vorbeugten, sondern die ‚Ressource Mensch‘ selber dafür verantwortlich sei. Daher nennt der Aktionsrat als Schutzmaßnahmen vor Burnout auch nicht eine geringere Stundenanzahl und geringere Klassengrößen, sondern zählt personenbezogenen Faktoren bzw. individuelle Ressourcen auf, an denen ‘gearbeitet‘ werden müsse: So beugten persönliche Einsatzbereitschaft, hohes Engagement oder auch Stressresistenz psychischen Beeinträchtigungen vor. Es liegt in der Verantwortung der Lehrkraft, Bewältigungs- und Verhaltensmuster zu entwickeln, die der hohen beruflichen Belastung angemessen sind. Schafft er dies nicht, muss er daran arbeiten und sein Verhalten ändern – so der Aktionsrat.

 

Belastet – oder nicht belastbar?

 

Dass aus Sicht des Aktionsrates die Lehrkräfte, nicht die fehlenden infrastrukturellen und materiellen Ressourcen schuld an der zunehmenden Zahl an Krankheitstagen und Frühverrentung sind, stellt er unverblümt dar: „Während die wissenschaftlichen Studien keine Hinweise auf bedeutsame Zunahmen der Prävalenzraten psychischer Störungen über die Zeit erbrachten, zeigen die Statistiken der Renten- und Krankenkassen für den gleichen Beobachtungszeitraum deutliche Zunahmen in der Inanspruchnahme von Fehltagen – bei gleichzeitig sinkenden Anteilen von Personen, die dauerhaft vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden. Die Zunahmen der Arbeitsunfähigkeitstage sind also nicht auf eine Zunahme der ‚wahren Prävalenzen‘ psychischer Störungen zurückzufuhren, sondern auf eine stärkere Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems und eine stärkere Nutzung der Möglichkeit, bei Erleben von Überlastung oder anderer psychischer Beeinträchtigungen dem Arbeitsplatz vorübergehend fernzubleiben“ (ebd., S. 78). Schuld an der Situation seien somit die LehrerInnen, die nicht zunehmend belastet, sondern zunehmend weniger belastbar seien. Somit, so stellt der Aktionsrat fest, gehe es nicht nur um die Frage, „ob eine belastbare Diagnose als ‚ausgebrannt‘ gestellt werden kann, die das Fernbleiben von der Arbeit legitimiert. Vielmehr drängt sich vor allem die Frage auf, wie Personen identifiziert und unterstützt werden können, die sich aufgrund eines inadäquaten Umgangs mit den hohen beruflichen Anforderungen im Bildungswesen massiv belastet fühlen und qualitätsgeminderte Arbeit verrichten“ (ebd., S. 44 f.). Belastet und erschöpft? Suche die Ursachen zuvorderst bei Dir und überprüfe dich selbst – so die Meinung des Aktionsrates.

 

 

Lärm und mangelnde Disziplin? Stärke Deine Fähigkeiten zum Klassenmanagement!

 

Um psychischen Beeinträchtigungen vorzubeugen empfiehlt der Aktionsrat Trainings zur Förderung burnout-präventiver sogenannter ‚Coping‘-Kompetenzen (von englisch cope: bewältigen) sowie die gezielte Förderung der Klassenmanagementkompetenz bei angehenden und praktizierenden Lehrkräften. Unter ‚Coping‘-Kompetenzen werden dabei „gesundheitsförderliche Selbstregulationsmodi oder Verhaltens- und Erlebensstile“ verstanden, die als Module in die LehrerInnenausbildung zu implementieren und im Rahmen der Fort- und Weiterbildung anzubieten seien. Unter Klassenmanagementkompetenz versteht der Aktionsrat die Fähigkeit, Risikofaktoren „wie z. B. Klassen mit einer geringen Schülerdisziplin […] und chronischer Lärmbelastung durch ein effizientes Klassenmanagement zu umgehen, denn dieses reduziert Disziplinprobleme und damit die Lärmbelästigung“ (ebd., S. 136). Ist die Klasse zu laut, liegt dies nach Ansicht des Aktionsrates nicht an der Klassengröße, sondern allein an der mangelnden Kompetenz der Lehrkraft, seine Klasse angemessen zu managen. Aber dafür gibt es, wenn es nach dem Aktionsrat geht, in Zukunft ein Trainings- und ein Weiterbildungsprogramm. Ob dadurch die Schüler leiser werden, oder die Lehrkräfte tauber, klärt er nicht auf.

 

Blinde Flecken – gewerkschaftliche Studien zeichnen ein anderes Bild der Wirklichkeit

 

In der Studie Bildungsarbeit im Umbruch der Hans-Böckler-Stiftung von 2013 wurde untersucht, wie sich die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Lehrkräfte in den letzten Jahren verändert haben. Dabei werden verschiedene Tendenzen herausgearbeitet: So „ein Umbau oder zumindest eine Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse durch die Zunahme von Befristungen bei gleichzeitiger Verkürzung der Zeitdauer der Beschäftigungsverhältnisse […], die Formulierung neuer Anforderungen an die Kompetenz von Lehrenden […], eine stärkere Fremdsteuerung und Kontrolle der Arbeit von Lehrenden […], die Erweiterung des Aufgabenspektrums der Lehrenden“ (HBS 2014, S. 245 f.). Dies alles sind Veränderungen der institutionellen Anforderungen an die Lehrkräfte, die im Gutachten des Aktionsrates nicht oder nur am Rande auftauchen. Ebenso wenig wird als Lösung der immer anforderungsreicheren Arbeitssituation der Lehrkräfte darüber nachgedacht, ob nicht eine Reduzierung der Stunden, der Schülerinnenzahl, der Anforderungen und der Aufgaben geeignet wären, die Situation zu verbessern. Hier zeigt sich, dass auch wissenschaftliche Expertise immer auch interessegeleitet ist: Geht es darum, die selbstverantwortete Schule unter materiellen Mängelbedingungen zu organisieren und die Verantwortung für das strukturell bedingte individuelle Versagen und die hieraus entstehenden psychischen Folgen den Lehrkräften zuzuschieben? Oder geht es darum, die strukturellen Bedingungen anzuführen, die gewährleistet sein müssen, um gute und qualitätsvolle Bildungsarbeit leisten zu können – zum Wohle des Kindes? In diesem Verständnis muss auch über Veränderungen der Arbeitsorganisation und -gestaltung, über die Neufestlegung von Klassenstärken, von Stundendeputaten, eine Neufassung der Arbeitszeitregelung, aber auch über eine ‚stressprophylaktische Arbeitsplatzgestaltung‘ durch Schaffung individueller Frei- und Gestaltungsspielraume geredet werden. Wer die Lehrkräfte motivieren will, darf über eine notwendige Stärkung der materiellen Ressourcen nicht schweigen. Zuletzt ist beides notwendig.

 

Fredrik Dehnerdt, stellv. GEW-Vorsitzender

 

Literatur

HBS – Hans-Böckler-Stiftung: Bildungsarbeit im Umbruch. Zur Ökonomisierung von Arbeit und Organisation in Schulen, Universitäten und in der Weiterbildung, Berlin 2013

vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft: Psychische Belastungen und Burnout beim Bildungspersonal. Empfehlungen zur Kompetenz- und Organisationsentwicklung, Münster 2014

 

Foto: © Sebastian Bernhard / pixelio.de