Rezension: Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte

02. November 2020 Von: C.Jantzen Gruppenbeitrag

Dita Zipfel:

Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte

ISBN: 978-3-446-26444-1

15,00 €,  200 Seiten

Hanser 2020

Das Buch wurde 2020 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Jugendbuch ausgezeichnet (https://www.jugendliteratur.org/preistraeger-2020/c-105).

 

Eine Rezension in Figurenperspektiven:

Lucie
Es gibt Zeiten im Leben, da ist man im Tunnel. Anpassen, nicht auffallen, bloß nichts falsch machen. Das ist der eine Teil der 13jährigen, die mit ihren höchst widersprüchlichen Gefühlen und Gedanken kaum fähig zu sein scheint, mit Gleichaltrigen zu kommunizieren und selbst nicht weiß, mit wem sie befreundet sein will oder nicht. Und vor allem, wie man jemandem näherkommen kann. Zielstrebig, hilfsbereit und verständnisvoll, das ist die andere Lucie, denn sie muss unbedingt von zu Hause weg (-> Familie), nach Berlin, braucht dafür Geld, also einen Job. Dadurch lernt sie -> Herrn Klinge kennen, einen sehr seltsamen Mann, der aber gut zahlt, weshalb sie für ihn auch seltsame Jobs macht. Taff agiert sie da und erstaunlich selbstbewusst. Und da Lucie die Erzählerin ist, tauchen wir intradiegetisch voll ein in ihre hochpubertären Sichten, oft eindimensional, aber dann auch hochreflektiert, subjektiv ungerecht, wankelmütig, philosophisch, eben: pubertätsrealistisch. Als Lesende sind wir Lucie ausgeliefert.

Herr Klinge
Herr Klinge ist seltsam, hochgerüstet und verteidigungsbereit, kommt in der Welt nicht immer gut zurecht und lebt sehr konsequent in einer eigenen Welt, in der es Drachenherzen und Phönixe gibt. Herr Klinge kann und weiß vieles - aber schreiben kann er nicht. So wird Lucie seine Assistentin, die sein Wissen aufschreibt. Und da Lucie sich auf seine Welt einlässt, bekommen wir Lesenden vorgeführt, dass die scheinbar wahnsinnige Welt des Herrn Klinge durchaus eine nachvollziehbare Logik hat. Immer wieder wird uns der Spiegel vorgehalten: Was ist normal, was ist Wahnsinn?

Lucies Familie
Janni(s) ist Lucies kleiner Bruder, 11 Jahre alt. Er ist mal Verbündeter, Schutzobjekt oder auch Schwesternhasser. Als er jünger war, mochte er gern Ballett.
Die Mutter lebt immer mit verschiedenen Lebensabschnittsgefährt*innen zusammen, zur Zeit ist das der Michi, von dem sie auch ein Kind erwartet. Vorher war es -> Bernie, eigentlich Bernhardine, eine Frau, die wunderbar gut mit den Kindern zurechtkam. Die Mutter ist hin- und hergerissen zwischen den Ansprüchen der Kinder und ihren eigenen, auch mit einem neuen Mann. Irgendwann reflektiert Lucie das ein wenig: "Es gibt Momente, in denen man jemanden, den man schon immer kennt, auf einmal ganz neu sieht. Und denkt: krass. Meine Mutter war auch mal ein normaler Mensch. Ohne Kinder."
Der Michi ist der nicht mehr ganz neue Freund der Mutter, egozentrisch in sich verliebt und etwas esoterisch abgehoben (zumindest aus der Sicht von Lucie). Er beansprucht, Teil der Familie zu sein - macht aber alles falsch (zumindest aus der Sicht von Lucie). Wegen ihm will Lucie auch weg und nach Berlin zu -> Bernie.

Bernie (Bernhardine Jakupak)
kommt im Buch gar nicht handelnd vor. Aber sie ist die Sehnsucht von Lucie, zu ihr möchte sie nach Berlin, denn Bernie hat Lucie immer verstanden und rückhaltlos unterstützt. Sie war Lebensabschnittspartnerin von Lucies Mutter und die beste Mutter der Welt. Sie fehlt Lucie sehr.

Marvin
ist auf der Schule von Lucie und wird von vielen Mädchen angehimmelt. Der Name allerdings ruft Klischeevorstellungen auf, die nicht positiv sind. Ob die Wahl des Namens von Zipfel wirklich glücklich ist? Denn dadurch wird von Anfang an die Erwartung aufgebaut, dass die sich verkorkst anbahnende Liebelei zwischen Lucie und Marvin darin endet, dass dieser sie ausnutzt, lächerlich macht. Und so kommt es dann auch.

Leo
ist der positive Gegenspieler von Marvin - zunächst verkannt, dann aber der Freund ihres Vertrauens und - ach, wenn Lucie sich das doch eingestehen würde - auch der Junge, den sie liebt. Und der auch sie liebt. Wunderbar, der Leo.

Alles andere in diesem Buch ergibt sich aus der Figurenkonstellation und kann dortselbst nachgelesen werden. Die Vielfalt der Figuren ist gelungen, sie sind letztlich zwar an Typen angelehnt, entwickeln sich dennoch individuell, vertiefen sich im Laufe der Handlung. So gelingt Dita Zipfel ein Kinderbuch, das anrührt, nachdenklich macht, bisweilen auch zum Lachen anregt und vielleicht auch Trost spenden kann: Niemand ist perfekt. Unbedingt lesen, verschenken, weiterempfehlen!

((Aus der Rezensionslogik fallen die Illustrationen von Rán Flygenring heraus, Zeichnungen mit Schwarz, Weiß und Orange, die eng verzahnt mit dem Text die Handlung gestalten oder kommentieren. Sie sollen hier also nicht unerwähnt bleiben und verdienen ein uneingeschränktes Lob für die Buchgestaltung!))

Christoph Jantzen

 

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