Die Nachricht, die im April aus der Berliner Bildungsverwaltung kam, bringt Schwung in die Debatte um die GEW-Forderung nach einer „Schule für alle“: Das Modell Gemeinschaftsschule verzeichne „gute Erfolge“, ihre Schülerinnen und Schüler „bemerkenswerte Lernzuwächse“ – insbesondere, wenn sie aus eher bildungsfernen Elternhäusern kommen.
Bescheinigt hat die erfolgreiche Arbeit der Berliner Gemeinschaftsschulen ein Team um die Hamburger Bildungsforscher Johannes Bastian und Ulrich Vieluf, das seit 2008 regelmäßig an den Pilotschulen zu Gast war, um Lernstände zu erheben, Lehrkräfte zu befragen oder Interviews mit Schülern zu führen.* So lange haben Projekt und wissenschaftliche Begleitung gedauert, dass man sich noch einmal explizit daran erinnern muss, was die rot-rote Koalition da 2007 auf den Weg gebracht hatte: den bundesweit mutigsten Versuch, eine inklusive Schule für alle Wirklichkeit werden zu lassen. In den Gemeinschaftsschulen – ein Pilotversuch mit anfangs elf und heute 24 Schulen – lernen Schülerinnen und Schüler ab der ersten Klasse ohne jede äußere Differenzierung. Es gibt weder A-, B- und C- noch FE-/GAKurse, kein Probehalbjahr und auch kein Sitzenbleiben. Erst in der neunten Klasse bekommen die Jugendlichen eine Prognose für den Schulabschluss. Sie können an den Gemeinschaftsschulen auch das Abitur erwerben.
Größere Fortschritte
Mit ihrer Mitteilung, dass die Gemeinschaftsschüler in Deutsch mehr dazulernten als eine Kontrollgruppe aus Schulen des gegliederten Systems, die der Zusammensetzung der Gruppe der Berliner Gemeinschaftsschule entsprach, hatten die Forscher bereits im Zwischenbericht vor vier Jahren Aufsehen erregt. Nun haben sich die Ergebnisse bei der zweiten Lernentwicklungsüberprüfung zwischen der siebten und neunten Klasse noch einmal verbessert. In Deutsch, Englisch, Mathe und Naturwissenschaften lernten die mithilfe des KESS-Tests** geprüften Mädchen und Jungen zwischen 2013 und 2015 deutlich mehr dazu als die Schülergeneration drei Jahre vor ihnen. Verglichen mit den jungen Menschen aus der getesteten Gruppe der Hamburger Schulen des gegliederten Systems (einer Kontrollgruppe aus 62 vergleichbaren Schulen, die an der KESS-Studie teilgenommen hatten) machten die Berliner größere Fortschritte in Lesen, Mathe und Englisch; nur in Orthografie und Naturwissenschaften verzeichneten die Forscher kaum Unterschiede.
Und auf diese Meldung wartet das deutsche Bildungssystem seit der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000: Besonders viel lernten Schülerinnen und Schüler in sozial benachteiligten Stadtteilen hinzu. „Was den Lernzuwachs angeht, ist das Ziel, die notorisch enge Bindung von Lernerfolg und sozialer Herkunft zu entkoppeln, erreicht“, sagt Bildungsforscher Vieluf, „und zwar ohne, dass die Leistungsstarken zu wenig gefördert werden. Individualisierung nützt allen.“
Die individuelle Förderung wurde mithilfe einer Vielzahl differenzierter Unterrichtsmethoden erreicht, am Ende floss der inhaltliche Austausch in einen „Praxisleitfaden“*** ein. Als weiteren zentralen Grund für den Lernerfolg bislang schwächerer Mädchen und Jungen sieht Vieluf ein System der Rückmeldung, das die Lernfortschritte jedes Einzelnen wertschätzt und in den Mittelpunkt stellt. „Wenn Schüler das Gefühl haben, sie kommen voran, ist das offenbar hochwirksam.“ Weil das System nur funktioniert, wenn Lehrkräften mehr Möglichkeiten als lediglich sechs Ziffern für die Rückmeldung zur Verfügung stehen, verzichten alle an der Untersuchung beteiligten Schulen bis zur neunten Klasse auf Noten.
Enorm wichtig sind auch motivierte Lehrkräfte. Alle Gemeinschaftsschulen mussten sich mit einer Zwei-Drittel- Mehrheit in der Schulkonferenz für den Pilotversuch entscheiden. Für ihr Engagement erhielten die elf Schulen des Startjahrgangs in den ersten drei Jahren Unterstützung: Ein Qualifizierungsteam betreute die Schulen in Fragen von individueller Förderung, Leistungsbeobachtung, Schulentwicklung und Teamarbeit. Zudem gab es für die ersten Jahre einen Etat für Fortbildung und eine halbe zusätzliche Stelle pro Schule. Die anderen Schulen hatten kein spezielles Qualifizierungsteam.
Die Umsetzung wirkt offenbar nachhaltig. Man habe „viel des einstigen Reformeifers wiedergefunden“, erklärt Vieluf. Statistisch legten nach wie vor 800 von 1 000 befragten Lehrkräften eine „positive Einstellung“ zur Gemeinschaftsschule an den Tag. Noch mehr, nämlich neun von zehn, lobten die dort übliche Arbeit in Jahrgangsteams.
Die Berliner GEW fordert auch angesichts anstehender Wahlen im Stadtstaat und einer drohenden Verschleppung des Themas baldige und deutliche Konsequenzen: „Der Schwebezustand muss beendet werden“, sagt Ko-Landesvorsitzender Tom Erdmann. Die Gemeinschaftsschule solle „als eigenständige Schulform in das Berliner Schulgesetz aufgenommen werden“, also weder in Form einer Verlängerung des Modellversuchs noch als Sonderform der Sekundarschule. Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte sich demgegenüber dafür ausgesprochen, das Angebot als „besondere Ausprägung der Integrierten Sekundarschule“ zu verstetigen.
Ein verstärkter Einsatz der GEW für die „Schule für alle“ sei wichtig, so Erdmann: „Wir müssen die zusätzlich notwendigen Schulplätze für Geflüchtete im Zusammenhang mit Inklusion denken. Dafür brauchen wir dringender als je zuvor eine Schule, die allen gerecht wird.“
Die GEW Berlin hat das Projekt Gemeinschaftsschule intensiv begleitet: Bereits seit 2006 debattiert ein von ihr mit gegründeter Runder Tisch Gemeinschaftsschule regelmäßig mit Pädagoginnen und Pädagogen, Bildungsforschern und -politikerinnen. Auch die Initiatorin des Runden Tisches Marliese Seiler-Beck hofft durch die Forschungsergebnisse auf neuen Schwung für die Debatte: „Es ist möglich, einen Unterricht zu machen, der allen gerecht wird. Sollte es noch eines Beweises bedurft haben: Jetzt ist er da.“
Jeannette Goddar, freie Journalistin
*Abschlussbericht „Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule“: www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/gemeinschaftsschule/
**KESS-Untersuchungen: http://bildungsserver.hamburg.de/bildungsqualitaet/
***Praxisleitfaden „Gemeinschaftsschule gestalten“: www.berlin.de/imperia/md/content/sen-bildung/bildungswege/gemeinschaftsschule/gms_praxisleitfaden.pdf
Foto: Sebastian Bernhard / www.pixelio.de
Der Artikel erschien in der E&W 06/2016